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hans-Christian Schink

Tōhoku

 

08. Februar - 13. April 2014

 

 

 

Die Wunden der Leere

 

Eine postapokalyptische Stimmung legt sich über die malerisch verschneiten Landschaften, die die Schönheit japanischer Holzschnitte heraufbeschwören. Die Zeit steht still. Die Landschaft ist wie eingefroren. Eine dünne Schneeschicht bedeckt die Spuren der Katastrophe, die nur noch latent sichtbar sind. Blank gereinigte Ebenen, auf der sich vormals Küstenstädte erhoben, verbleiben im Moment der Erstarrung. Auch ein Jahr nach dem Tsunami wirkt die Region Tōhoku immer noch wie paralysiert.

 

Die abgründige Stille lässt die Katastrophe fast physisch empfinden. "Selbst bei zunächst unverdächtigen Aufnahmen spürt man intuitiv eine unterschwellige Spannung, eine Art Phantomschmerz an den Stellen, wo zuvor Menschen gelebt und ihre Häuser gestanden haben", schreibt Denis Brudna in einer Rezension von Hans-Christian Schinks Buch "Tōhoku".

 

Auf einem Hügel stehend, oberhalb eines Friedhofs, blickt man herab auf das leer geräumte Terrain. Der Blickwinkel ist der des Überlebenden, der sich in Sicherheit bringen konnte oder das Glück hatte, weit genug am Hang zu wohnen. Schinks auf Strategien der Romantik rekurrierende Bildsprache des Erhabenen vermengt den Schrecken des Naturdramas mit einem ästhetischen Bildgefüge zu einem spannungsreichen Ausdruck des Sublimen. Die narrative Potenz der überwältigenden Überblickslandschaften wird verstärkt durch ein gemischtes Gefühl von Faszination und Bedrohung. Die gespenstische Ruhe nach dem Sturm erscheint trügerisch, als könne sich das Meer jederzeit wieder aufbäumen.

 

Das Wasser trieb Häuser, Schiffe und Fahrzeuge wie Spielzeugfiguren vor sich her und setzte sie im Landesinneren willkürlich an anderer Stelle ab. Die riesigen, vom Küstenschutz gebauten Betonstützen wurden wild durcheinander gewirbelt, als wären sie aus Styropor; ein roter buddhistischer Holztempel wirkt wie von einem Riesen aus seinem Fundament herausgelöst und, in seiner Gänze belassen, am Waldrand abgestellt; ein Bus „parkt“ auf einem Haus; ein Fischkutter liegt gestrandet inmitten eines Reisfelds. Die stehengebliebenen Hausruinen, dem topographischen Stil von Bernd und Hilla Becher verpflichtet, unter gleichmäßig fahlem Licht frontal, diagonal oder seitlich bildmittig gesetzt, betören durch ihre skulpturale Schönheit. Zwischen die großflächig angelegten Landschaftspanoramen eingestreut, erzeugen diese Bestandsaufnahmen der Verwüstungen eine dem distanzierten Blick nicht gegebene Unmittelbarkeit, die berührt.

 

In vielen seiner vorherigen Serien hat sich Hans-Christian Schink mit dem Gegensatz zwischen Natur und Kultur auseinander gesetzt, wie in "Verkehrsprojekte Deutsche Einheit", wo sich mächtige Autobahnbetonkonstruktionen bildbeherrschend über Flüsse und durch Felder einen Weg bahnen, oder wie in der Serie "LA", wo sich in den Randlagen der gigantisch ausgedehnten Stadt Los Angeles vereinsamte Asphaltwege in die Wüste hineinfressen. Der Mensch ist hier mächtiger als die Natur, sie wird zum Opfer der Zivilisation. Mit der Serie "Tōhoku" macht Schink eine Kehrtwende und zeigt, dass es auch andersherum sein kann. Im Vergleich zu seinen vorherigen Bildkonstruktionen, wo die Menschenleere ein Ergebnis war von Auswahl und Perspektive, wurde hier menschliches Leben von einer brachialen Naturgewalt ausgelöscht. Die Natur hat etwas genommen, was der Mensch versucht hat, sich anzueignen.

 

Schon bei seinem ersten Japan-Stipendium, 2009 in Niigita, hat Schink die technischen Anstrengungen beobachtet, die man unternahm, um die Natur zu bändigen. Ihm fiel die Konsolidierung der Hänge zum Erdbebenschutz, die massive Aufrüstung mit Kulturnadelwäldern, die gigantischen Schutzwälle entlang der Küste zum Schutz vor Tsunamis ins Auge, genauso wie die Eigenart, das Pflanzenwachstum stark zu reglementieren, wo selbst in den kleinsten privaten Vorgärten Bäume gestutzt, geschrubbt, gerupft, balsamiert und bandagiert werden. "In Japan ist die Bestrebung, die Natur zu beherrschen, stärker ausgeprägt als in westlichen Gesellschaften. Gleichzeitig gibt es eine viel größere Akzeptanz, dass die Natur stärker ist und sich vom Menschen nicht besiegen lässt", ist seine Beobachtung. Schink fand den Pragmatismus der Bevölkerung im Umgang mit den Naturkräften bemerkenswert und konnte nicht feststellen, dass der Tsunami die Gesellschaft aus der Bahn geworfen, dass er eine Verschiebung im zivilisierten Verhalten nach sich gezogen hätte. Seine nüchtern gehaltenen Bilder bringen zum Ausdruck, wie Japan gelernt hat, mit Naturkatastrophen zu leben. Für ihn sind sie ein Zeichen der Akzeptanz.

 

Schinks vorsichtige Annäherung hat sich auch den Japanern positiv vermittelt. Naoya Hatakeyama, einer der führenden zeitgenössischen Fotografen Japans und aus einer der am meisten zerstörten Städte stammend, empfand die Art und Weise, wie sein europäischer Kollege diese unvorstellbare Katastrophe darstellt, in ihrer Zurückhaltung als angemessen. Rei Masuda, Fotokurator des National Museum of Modern Art in Tokyo, hebt eine Erfahrung hervor, die er mit Schink teile: beide seien „zu spät“ gekommen. Masuda, der nicht unverzüglich in das zerstörte Gebiet fahren konnte, aus der die Familie seiner Frau kommt, bedauerte, dass er die Eindrücke der ihm sehr nahestehenden Menschen nicht wirklich nacherlebbar vollziehen konnte. Das Ereignis sei für ihn „mit einer Art Schmerz verbunden, der sich schwer beschreiben lässt, als ob es zu einem feinen Riss in manchen bis dahin engen Beziehungen geführt hätte.“

 

Die Unwirklichkeit und Entrücktheit, die Schinks Bilder ausstrahlen, entsprechen dem tauben Gefühl des Phantomschmerzes. Aber es gibt Linderung. Bald schon entdeckt man in einigen Aufnahmen winzig kleine Menschen, wie die Surfer an einem Strand inmitten fallender Schneeflocken. So minimal die Zeichen sind, so deutlich ist deren Botschaft: Das Leben geht weiter.

 

Christiane Stahl

Alfred Ehrhardt Stiftung

 

 

Die Ausstellung wurde in Kooperation mit der

ALFRED EHRHARDT STIFTUNG Berlin realisiert.

Fotografien © Hans-Christian Schink

 

 

 

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