Essay zur Fotografie #3
Mind and Memory Stephan Reusse und Philipp Goldbach Im Forum für Fotografie Köln Teil 2: Philipp Goldbach
Der Charme der analogen Welt Ein einziges Blatt Papier mit unendlich vielen Zeichen. Ein ganzes Buch hat Philipp Goldbach handschriftlich auf eine Seite übertragen. Aus der Distanz betrachtet schimmert der Textblock kompakt im zarten Grau des Bleistift-Grafits. Sieht man genau hin, lassen sich die winzigen Zeilen erkennen, deren Textgewebe durch dezente Kapitelanfänge rhythmisiert ist. Bei der Vorlage handelt es sich um eine Geschichte der Fotografie, die Lucia Moholy 1936 im Londoner Exil unter dem Titel „A Hundred Years of Photography 1839-1939“ schrieb. Dieses jetzt im Forum für Fotografie Köln gezeigte Mikrogramm ist nur eines in einer bald zwanzig Jahren wachsenden Reihe programmatischer Texte zur Erkenntnistheorie, die der 46-jährige in Köln lebende Künstler mit mönchischer Sorgfalt verzeichnet. Beginnend mit Georg Wilhelm Friedrich Hegels „Phänomenologie des Geistes“ enthält die Serie etwa Henri Bergsons „Matière et mémoire“ oder Roland Barthes Nachdenken über die Fotografie in seiner Abhandlung „La chambre claire. Note sur la photographie“.
Philipp Goldbach: Lucia Moholy, A Hundred Years of Photography 1839-1939, Mikrogramm, 2023 (Detail)
Man könnte Philipp Goldbach für einen Archäologen der analogen Medien halten, allerdings für einen, der ohne jede nostalgische Ambition mit den Hinterlassenschaften einer Epoche agiert. Die Begeisterung für Apparaturen und Material verbindet sich für ihn stets mit einer Reflektion der analogen Funktionsweisen, deren mitunter spielerischer Ansatz in seinen Installationen sinnlichen Ausdruck findet. So hallen durch das Forum Geräusche eines rhythmischen Klackens, die niemandem ganz unbekannt vorkommen werden. Haben wir sie nicht alle durchlitten, diese Langeweile der Diaabende, an denen fremde Urlaubserlebnisse bestaunt werden wollten? Oder Schulstunden im Halbdunkel vor schlechten Bildprojektionen? Und wen das alles nicht eingeholt hat, der wird im Studium mit Diavorträgen traktiert worden sein. Goldbach montierte zehn solcher 35 mm Kodak Carousel Diaprojektoren zu einem Cluster mit dem Titel „Kodak S-AV“ an die Wand und neigt sie um 90 Grad. Auf jedem sitzt eines der Karussells, in die die Dias eingelegt wurden. Man hört die Mechanik des Karussells und sieht die Lichtkegel der Projektoren auf der Wand, die nach allen Seiten hin ihr Streiflicht entsenden. Wie eine skurrile Tiergestalt mit zehn Augen wirkt dieses Gebilde.
Philipp Goldbach: Kodak S-AV kineLsche Lichtskulptur aus Kodak Carousel Diaprojektoren, Köln 2024
Medien sind Wahrnehmungssysteme Tatsächlich ist der Bezugspunkt aller Mechanik stets der lebendige Körper, sei es der menschliche oder der tierische. Mit seiner kinetischen Lichtskulptur löst Goldbach die Projektoren aus ihrer Funktion und lässt mit dem Blick auf ihre überholte Technik die Erinnerung an die erkenntnistheoretische Praxis einer vergangenen Epoche aufscheinen. Zeit wird hier als historische Zeit thematisiert, die mit den veränderten technischen Instrumenten, derer sie sich bedient, auch andere Erkenntnispfade beschreitet. Dieser Ansatz setzt sich in der Beschäftigung mit den gläsernen Dias fort. Über der Vergrößerung des Bildes durch die Projektion eröffnet das Dia die Möglichkeit zur analytischen Betrachtung. Dem Bild wird Bedeutung zugemessen, die im gemeinsamen Betrachten erfasst werden kann. Philipp Goldbach thematisiert den Umgang mit dem Bild über die zugrunde liegenden Reproduktionssysteme. So hat er die Diatheken diverser kunsthistorischer Institute etwa an den Universitäten von München, Köln, New York oder – wie im Forum zu besichtigen – von Bonn vor der Vernichtung bewahrt. Mit dem Aufkommen der digitalen Bildmedien betrachtete man die gläsernen Dias als obsolet. Goldbach fühlte sich hingegen der besonderen Gegenständlichkeit diese Bildträger verbunden. Aus dem Material entstanden Installationen, die gleich einem Füllhorn den Bildschatz entweder auf dem Boden ausgossen oder ihn zu einer mächtigen Bildwand gestapelt präsentierten. Im Forum für Fotografie Köln ist die Arbeit „Lossless Compression (Universität Bonn, Kunstgeschichte II, Topographie)“ zu sehen. Philipp Goldbach montierte dazu die ca. 75.000 Dias umfassende Sammlung aus Bonn mit Hilfe von Metallprofilen zu drei mächtigen Kuben zusammen. Das geballte Bildgedächtnis einer Epoche kann hier in seiner gewichtigen Materialität betrachtet werden. Goldbach gibt uns eine konkrete Vorstellung von der Gegenständlichkeit dieser Informationsmedien, deren Inhalte in die körperlose Welt der Digitalität eingegangen sind. Der Titel weist listig auf das mit der digitalen Technik einhergehende Versprechen verlusstfreier Daten. Erhaltene Daten sind aber nicht alles. Tatsächlich muss die Gegenständlichkeit mit der ihr eigenen Schönheit für die digitale Transformation geopfert werden. Das Digitale existiert nicht voraussetzungslos.
Philipp Goldbach: Lossless Compression (Universität Bonn, Kunstgeschichte II, Topografie), Düsseldorf 2024
Berührung als Existenzbeweis
Auch hier – wie schon in seiner Hingabe für die Schrift der Mikrogramme - steigt Philipp Goldbach tief in das Wesen eines Transformationsmediums ein. „Während ich schreibe, lese ich die Texte wieder“, erklärt er. Über die schreibenden Exerzitien prägt sich der Text gedanklich ein. Auch das Dia übermittelt mit dem Bild einen Text, der hier allerdings als visueller Text gelesen werden will. Und gelesen werden auch die Leinwände von Lucio Fontana. Als der Italiener Mitte der 1950er-Jahre begann, seine Leinwände mit Messern zu schlitzen, stellte dieser gewaltsame Akt einen konsequenten Schritt auf dem Weg zur Reduzierung des Malgrunds dar. Er verschmolz Vorder- und Hintergrund und bezog die räumliche Dimension des Bildes mit ein. Diese herausfordernde Geste stellte die Glaubwürdigkeit der Malerei grundsätzlich in Frage. Philipp Goldbach ist es gelungen, vier Museen, darunter die Pinakothek der Moderne in München und das Centre Pompidou in Paris, davon zu überzeugen, von ihren Fontanas Photogramme herstellen zu lassen. Im Forum für Fotografie sind zwei dieser insgesamt neun großformatigen Werke zu sehen. Dabei handelt es sich mit „Attese“ um einen der Klassiker und mit „La fine di dio“ um eine Arbeit aus dem Spätwerk von Lucio Fontana. Die Museen waren dazu bereit, die Werke des Italieners abzuhängen und zu entrahmen, schon das ist bemerkenswert, zeigt aber, wie überzeugt sie von Goldbachs Methode waren. Der Künstler unterlegte die Originale mit Fotopapier und belichtete es. Die Aufnahmen entwickelte er in einer unmittelbar am Ort errichteten Dunkelkammer. Die Lichtwellen tasten die von Lucio Fontana verletzten Oberflächen ab und dokumentieren Schlitze, Löcher und Schnitte. Dieses archaische Verfahren der fotografischen Bildherstellung führt uns die Körperlichkeit des Gegenstands gerade durch seine Fragmentierung vor Augen. Goldbach setzt Fontanas Absicht, die Objekthaftigkeit des Bildes zu betonen, im fotografischen Medium fort, denn das Photogramm bleibt immer ein Original.
Philipp Goldbach: Lucio Fontana, ConceZo spaziale, AZese, 1959, Pinakothek der Moderne, München, Fotogramm, 2023
Als Verletzung der Oberfläche bezeugt der Schnitt die Existenz des Körpers und seiner taktilen Wahrnehmung. Ein Sujet der Heilsgeschichte, das sich von der Legende des ungläubigen Apostels Thomas über das „Noli me tangere“ aus dem Johannesevangelium, mit dem Christus Maria vor einer Berührung seines Körpers warnt, durch die Geschichte der europäischen Malerei zieht. Philipp Goldbachs Photogramme dokumentieren Fontanas Bilder als einzigartige Zeugnisse analoger Bildgestaltung. Selbst im Prozess ihrer Zerstörung bleiben sie Teil einer erkenntniskritischen Tradition, die das analoge Zeitalter über seine Trägermedien definiert.
Thomas Linden, Köln Dez. 2024 |