Essays zur Fotografie #1
Bernhard Hosa: Auf der Suche nach dem richtigen Bild Der Essay zum Bild Von Thomas Linden
Bernhard Hosa: Auf der Suche nach dem richtigen Bild, 2011 (H 39 mal B 29cm, Pigmentdruck auf Karton und Holz-Mehrschichtplatte)
Könnte nicht alles auch ganz anders sein?
Wie kann man sich „auf die Suche nach dem richtigen Bild“ begeben, und wann ist ein Bild „richtig“? Wir kennen zwar Bilder, die als „wahr“ gelten, das sind Ikonen mit dem Antlitz Jesu Christi. Aber ist das, was der österreichische Künstler Bernhard Hosa aus Versatzstücken zusammengesetzt hat, überhaupt ein Gesicht? Das menschliche Gesicht ist ein Urtext, dessen Merkmale Augen, Nase und Mund unendlich variantenreich sind. Wir haben gelernt, diesen Text zu lesen. Darüber ist uns das Gesicht zum Repräsentanten der Person geworden, denn wir sprechen nicht zu einem Knie oder einer Hüfte, sondern schauen unserem Gegenüber ins Gesicht, um seine Emotionen zu entschlüsseln. Das Porträt stellt eine Art Königsdisziplin der Fotografie dar. Denn das fotografische Porträt beweist die Existenz eines Menschen, ein Umstand, der innerhalb der Menschheitsgeschichte einzigartig ist. Ihm kommt ein unschätzbarer ideeller Wert zu. Aber die Fotografie besitzt noch ein zweites Gesicht.
Eine anarchische Geste
So großartig ihre Rolle als dokumentarisches Medium auch ist, verdingte sie sich doch in der Frühzeit ihrer Entwicklung schon als Agentin der Macht. Die von Bernhard Hosa in der Ausstellung „Faszination Fotocollage“ im Forum für Fotografie Köln gezeigte Arbeit gehört zu einer Serie mit dem Titel „Auf der Suche nach dem richtigen Bild“. Diese Fotocollagen thematisieren das von Alphonse Bertillon in den 1880er- Jahren entwickelte anthropometrische System zur Personenidentifizierung. Es handelt sich um eine erste Form von Gesichtserkennung, die zunächst als Hilfsmittel der Kriminologie gedacht war. Bertillon nutzte es aber auch 1894 während des Prozesses gegen Alfred Dreyfus, um in seinem Gutachten einen falschen Verdacht auf den Angeklagten zu lenken. Bernhard Hosa durchkreuzt jede Möglichkeit einer Personenfahndung, indem er sein dokumentarisches Material zerschneidet. Eine anarchische Geste, die umso brutaler wirkt, als die Bruchstücke grob wie eine eilig versorgte Wunde aneinander getackert wurden. Wir sehen weder Augen noch Nase oder einen Mund, dafür aber ein Ohr. Statt dem Blick, mit dem uns die Porträtierten üblicherweise anschauen, rückt die Akustik ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Hier ist offenbar jemand ganz Ohr auf das, was wir zu sagen haben. Hosa verhehlt nicht, dass es sich bei seinem nur noch ungefähr als Kopf zu erkennendem Gebilde um eine Collage handelt. Die Collage ist nicht wie das Foto dem Moment geschuldet und damit immer an die Realität der Gegenwart ihrer Entstehung gekettet. Dass sie etwas Gemachtes ist, zeigen uns ihre sichtbaren Schnittkanten. Die Collage will interpretiert werden, auch wenn sie sich gegen alle Konzepte sträubt, die Bedeutung generieren, wie diese Fotocollage, die uns im Titel schon auf die Fragwürdigkeit von Kategorien wie „richtig“ und „falsch“ verweist.
Die Suche nach verweigertem Sinn
Das Wesen der Collage – der Begriff leitet sich von papier collé, dem Klebebild, ab – bezeichnet das Demontieren von Material und Sinn und das Zusammensetzen auf andere Weise. Bernhard Hosa bezieht uns in diese Bewegung des Suchens ein. Die Versatzstücke von Haut und Haar spielen mit dem Eindruck der Konfusion, tatsächlich erkennt man in dem entstandenen Gebilde jedoch einen Kopf. Nur bleibt dieser Kopf amorph, eine konkrete Person lässt sich nicht identifizieren. Hosa hebelt die physiognomischen Kategorisierungen von Bertillon aus. Vier Jahr vor dessen Tod entwickelten Pablo Picasso und Georges Braque das Prinzip der Collage. In einer Zeit, in der die Bildmedien massenhafte Verbreitung fanden, stellten Picasso und Braque die Einheit von Bild und Bedeutung in Frage. Auch wenn die Collage heute als eine typische künstlerische Technik des 20. Jahrhunderts betrachtet wird, die ihre Fortsetzung in anderen Kunstformen wie der Musik, dem Film oder dem Theater fand, so beweist ihre Beliebtheit, dass sie über ihre Bedeutung als Technik hinaus einen Archetyp der menschlichen Wahrnehmung darstellt.
Die unablässige Bewegung
Das listige Spiel, das Bernhard Hosa mit der Demontage und der Kreation der neuen Gestalt inszeniert, berührt einen tief in der menschlichen Psyche verankerten Mechanismus. So befindet sich unser Denken und Fühlen in einer unablässigen Bewegung. Nichts von dem, was wir wahrnehmen – weder Glück noch Schmerz - können wir dauerhaft festhalten, stets ist der aktuelle Gegenstand unserer Aufmerksamkeit in einen Prozess der Verwandlung eingebunden. Die Collage führt uns diesen Zustand der Auflösung einer Gestalt auch durch die Fremdheit vor Augen, die vertraute Formen plötzlich annehmen. Bernhard Hosa trifft diesen Nerv, indem er in einer Zeit, in der Körperbilder digital optimiert werden, subtil die Furcht vor einer Gesichtsverletzung abruft. Veränderung macht Angst, aber zugleich beschreibt Bernhard Hosa mit seinem Spiel von Dekonstruktion und Neugestaltung den Prozess der Krise. Ein Begriff, der uns derzeit besonders aktuell erscheint, der aber unabdingbar zur Entwicklung des Individuums und der Gesellschaft gehört. Etymologisch betrachtet stammt das Wort Krise vom griechischen „crisis“ und bezeichnet einen Wendepunkt, an dem das falsch Zusammengesetzte wieder getrennt und richtig zusammengefügt wird. So befinden wir uns letztlich auf einer Suche nach dem „richtigen“ Bild der Wirklichkeit, und diese Suche macht uns offen für das, was sein wird. Allein dass es Bernhard Hosa gelingt, ein amorphes Gebilde zu kreieren, das alle Erwartungen, die wir an die Lesbarkeit eines Gesichts stellen, zu durchkreuzen versteht, zeugt von einer gewissen Genialität. Er führt uns vor Augen, dass erst im Fragen der Ansatz zur Form zu finden ist. Darin steckt das Potenzial der Collage, indem sie uns vor die ewige Frage stellt: Könnte nicht alles auch ganz anders sein?
Thomas Linden Im September 2024
Bernhard Hosa wurde 1979 in Amstetten, Niederösterreich, geboren. Er studierte von 1999 bis 2044 in Wien an der Universität für angewandte Kunst. Im Zentrum von Hosas Werk stehen Rauminstallationen und Assemblagen. Wiederkehrende Themenbereiche seines Schaffens sind kritische Auseinandersetzungen mit der Psychiatrie und der Kriminologie. Der Werkzyklus „Auf der Suche nach dem richtigen Bild“ entstand in den Jahren 2011-2012. |