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Laurence Aëgerter

Arithmetik der fotografischen Wahrnehmung

 

1+1=3 oder noch mehr?

 

20. Mai - 9. Juli 2017

 

 

Die in Marseille und Amsterdam lebende und arbeitende Künstlerin Laurence Aëgerter analysiert in ihren konzeptuell angelegten Werkserien, wie (fotografische) Bilder eine andere, ungeahnte Wirkung und Bedeutung entfalten können, wenn sie in neue Konstellationen transferiert werden und sich somit ein neuer Zugang zu ihnen eröffnet. In der Herstellung ungewohnter Bildnachbarschaften und ihrer wahrnehmungstechnischen Konsequenzen liegt die Besonderheit und der provozierende Charme ihrer künstlerischen Untersuchungsreihen.

 

Aëgerter bedient sich unterschiedlicher Medien, ihre wichtigsten Arbeiten sind jedoch Fotobücher und Fotografien, in denen sie die vielfältigen Erscheinungsformen der wissenschaftlichen und kulturellen Produktion historischer wie zeitgenössische Provenienz einem stetigen Prozess der Transformation und Neuinterpretation unterzieht. Die Künstlerin selbst versteht ihr Werk als Einladung zu alternativen Lesarten und zur Auflösung festgefügter Denkkategorien. Mit Begriffen wie "Infiltration" und "Sabotage" beschreibt sie ihre bildnerischen Strategien der Befreiung von vorgefertigten oder eingefahrenen Interpretationsstrukturen.

 

John Berger ist einer der besten Lehrer, wenn man erfahren will, was Bilder in uns bewirken. Er zeigt auf, wie Bilder, die in falsche Umgebungen versetzt werden, ihren Inhalt verlieren und neue Funktionen erfahren. Eine seiner Thesen ist, dass die Bedeutung eines Werkes durch das verändert wird, was man unmittelbar daneben sieht oder was unmittelbar darauf folgt. Eine andere seiner Thesen zielt darauf, dass die Art unserer Wahrnehmung durch unser Wissen beziehungsweise unseren Glauben beeinflusst wird. Im Mittelalter, schreibt er, muss der Anblick von Feuer in einem Bild eine andere Bedeutung gehabt haben als heute. Das heißt, die Verdoppelung der Realität in einer parallelen Bilderwelt, von der Susan Sonntag gesprochen hat, funktioniert nicht nach arithmetischen Gesetzen, denn die Bilderwelt ist nicht lineares Abbild, sondern unterliegt in Gestaltung, Archivierung und Wahrnehmung höchst unbestimmten Regeln. Zahlreiche Künstler machen gegenwärtig das Ausloten dieser Regeln zum zentralen Thema ihrer Kunst. Es geht nicht mehr darum, noch mehr Bilder zu schaffen, sondern vorhandene Bilder neu zu ordnen oder in neue Zusammenhänge zu stellen. Thomas Ruff spricht davon, dass man sich durch die Flut vorhandenen Bildmaterials durcharbeiten soll, und Hito Steyerl versteht sich in ihren analytischen Videos postproduktiv, indem sie vorhandenes Material aus ihren ursprünglichen Zusammenhängen herauslöst und neuen Bildbedeutungen zuführt.

 

 

Cathédrales

Laurence Aëgerter arbeitet in einem nach Süden ausgerichteten Atelier in Amsterdam mit fast vier Meter hohen Fenstern, und bei gutem Wetter wird ein sich fortwährend veränderndes Schattenbild der Fensterkreuze von der Sonne auf ihren großen Arbeitstisch projiziert. Aus dem Licht- und Schattenspiel entstehen gleichsam wie bei einer Sonnenuhr geometrische Strukturen als Heliogramme der Tageszeiten. Als Laurence Aëgerter ein Buch des französischen Tourismus-Ministeriums aus dem Jahr 1950 mit einem ganzseitigen Offsetprint der Frontansicht der Kathedrale von Bourges auf ihren Arbeitstisch legte, beobachtete und fotografierte sie die Projektion dieses Schattenspiels auf der Kathedrale, genauer, auf dem Foto von der Kathedrale. Zum ursprünglichen Abbild der Kathedrale addierte sie ein irritierendes Lichtspiel, das zuerst an eine während des ganzen Tages vor der Kathedrale montierte Kamera denken, dann aber zweifeln und schließlich erkennen lässt, dass es sich hier um die Fotografie einer Fotografie handelt und Licht und Schatten aus einem anderen Umgebungslicht hinzugefügt wurden. Somit  ist eine Abfolge von Bildern entstanden, die weit mehr im Betrachter hervorruft, als es die gewöhnliche Betrachtung einer dokumentarisierenden Architekturfotografie vermag.

 

Aëgerter wirft, die impressionistischen Versuchsreihen Monets zitierend, gleichsam ein neues Licht auf ein vielfach reproduziertes "banales" Fotodokument. Unerwarteterweise wird durch dessen "spontanen" Transfer in das Hier und Jetzt eine neue Betrachtung von Struktur, Haptik und poetischer Wahrheit des vorgefundenen Materials ermöglicht.

 

Der Kontext des Bildes einer gotischen Kathedrale aus dem 13. Jahrhundert, die in einer historisierenden Reproduktionstechnik gezeigt wird, und die darauf projizierten und schließlich fotografisch erfassten Licht- und Schattenspiele bewirken darüber hinaus in der finalen Form und Sequenz des Fotobuches von Laurence Aëgerter mit 120 unterschiedlich belichteten Abbildungen eine Verlangsamung des gewohnten Zeitablaufs und fördern die aufkommende Empfindung sakraler Kontemplation, die vergessen lässt, dass Zeit aus Rhythmus und Vergänglichkeit besteht.

 

 

Lévi Strauss und die Tristes Tropiques

Als der wichtige Mitbegründer des Strukturalismus 1955 das Buch „Tristes Tropiques“ (traurige Tropen) veröffentlichte, geschah das tragischerweise auf dem Höhepunkt jener historischen Phase, in der die von ihm beschriebenen Kulturen der Eingeborenen des Amazonasbeckens endgültig und jämmerlich zugrunde gingen. Sein Paradigma, dass man in der Wissenschaft immer so vorgeht, dass man eine weniger verständliche komplexe Struktur in eine besser verständliche transformiert, wurde ihrer anschaulichen Inhalte beraubt und auf eine wissenschaftliche Methode reduziert, die ihre Wertigkeit dadurch erhielt, dass sie nunmehr wenigstens im Sinne einer Eigenethnologie auf die Strukturanalyse der eigenen Gesellschaft angewandt werden konnte. Aber Lévy Strauss hatte auf seinen Reisen zu den Bewohnern Amazoniens, die erst möglich waren, weil vor ihm Soldaten, Kaufleute und Missionare die Wege bereitet hatten, auch Fotografien mit dokumentarischer Absicht angefertigt. Die so entstandene Publikation hat Laurence Aëgerter, in Zusammenarbeit mit Ronald van Tienhoven, Bild für Bild mit Bewohnern einer niederländischen Gemeinde nachgestellt und, wie Lévi Strauss vor ihr, dokumentarisierend fotografiert.

 

Die Bilder von Lévy Strauss zeigen die komplexe und schwer zugängliche kulturelle Struktur der Stammesgesellschaften Amazoniens, welche durch die Gegenüberstellung mit fotografischen Bildern von Holländern mit nachgestellten Gesten und Gruppenbildungen in eine unmittelbar und leicht verständliche Struktur transformiert werden. Auch in dieser Arbeit bleibt es nicht beim 1+1 von zwei Bildern, sondern die Addition führt zu einer neuen Wahrnehmungsqualität. Die entstandenen Bildpaare führen zu Verständnis und Nähe zu ihrem ethnologischen Ursprung, glücklicherweise aber oft auch zu Heiterkeit.

 

 

Photographic Treatment©

In der Therapie von Alzheimer-Patienten geht es darum, verlorengegangene Erinnerungen und Assoziationsketten wieder zu beleben. Hierbei sind therapeutische Techniken hilfreich, bei denen verlorene Erinnerungsinhalte dadurch wiederbelebt werden, indem man die Patienten mit Gegenständen, Personennamen etc. aus früheren Lebensphasen konfrontiert. Dies führt situativ oft zu überraschenden Gedächtnisverbesserungen. Eine bewährte Methode besteht beispielswese darin, Musik und Lieder zu spielen, die in der Jugend des Patienten weit verbreitet waren und bei deren Hören die Patienten sich plötzlich wieder an verlorengeglaubte Ereignisse in ihrem Leben erinnern können.

 

In ihrer breitangelegten Arbeit „Photographic Treatment©“ (fotografische Verschreibung) kombinierte Laurence Aëgerter einzelne Fotografien zu Bildpaaren, deren Betrachtung eine weitere Wahrnehmungsebene hervorruft und deshalb therapeutisch zum Assoziations- und zum Wortfindungstraining benutzt werden können. Die Bildpaare provozieren Hirnleistungen, welche bei der Betrachtung der jeweiligen Einzelbilder vom Gehirn nicht erreicht werden. Hierbei entstehen je nach Bildpaaren sehr unterschiedliche Assoziationen, wie formale Gemeinsamkeit, lustiges Paar, historische Gegenstände, warme Gefühle usw., welche nur durch die künstlerische Bearbeitung weit mehr sind als ein Bild + noch ein Bild.

 

 

Louvre und Hermitage

Die Abbildung von Menschen beim Betrachten von Kunstwerken gehört zum Kanon der Fotografie. Insbesondere die „Museum Photographs“ von Thomas Struth sind  nahezu jedem Kunstinteressierten gegenwärtig. Aus den beiden Bildebenen Kunstwerk und Betrachter entwickelte Struth eine Bildkomposition, die er für geeignet hielt, über die Funktion der Kunst in einer säkularen Gesellschaft nachzudenken.

Laurence Aëgerter ist an einer anderen Assoziation interessiert. Indem sie Kunstbetrachter im Louvre oder in der Hermitage jeweils in Rückansicht vor einem Gemälde fotografierte und sie in Lebensgröße abbildet, provoziert sie stellvertretend für den Betrachter ihrer Fotografie, dass auch er dem Betrachter im Museum über die Schulter sieht, und untersucht damit die neu entstandene Bildkomposition ebenso wie die Blickrichtung des Museumbesuchers und die Funktion dessen, der dieses Bild vom Bild betrachtet.

 

Norbert Moos

 

Fotos©: Laurence Aëgerter

 

 

 

 

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