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Tamara Lorenz

Symptomsache

 

6. September - 2. November 2014

 

 

Und so gern ich an eine Wahrheit jenseits der Illusion glauben würde, glaube ich doch inzwischen, dass es sie nicht gibt. (1)

 

Was sehen wir, wenn wir Fotografie betrachten? Die Faszination der Fotografie liegt in ihrem besonderen Verhältnis zur Wirklichkeit. In dem Maße, wie sich der Wirklichkeitsbegriff wandelt, verändert sich auch die Fotografie. Tamara Lorenz gehört einer Generation an, für die Objektivität im Sinne der Übereinstimmung von Realität und Bild unmöglich geworden ist. "Jede Wahrnehmung ist vollständig subjektiv!" - diese in den Siebzigerjahren von Vordenkern wie den Radikalen Konstruktivisten in die Welt gesetzte Zumutung (2) ist inzwischen zum Gemeinplatz geworden. Wenn es aber die Realität nicht gibt, wie kann es wahre Bilder geben? Das Erstaunliche ist, dass sich aus der wertfreien Betrachtung dieser Erkenntnis heraus neue Wege öffnen. Statt den Wirklichkeitsverlust der Postmoderne mit rückwärtsgewandter Larmoyanz zu beklagen, kann die innere Verabschiedung von einer allgemein verbindlichen und bindenden Wirklichkeit als Befreiung empfunden werden.

 

Der kreative Prozess, wie ihn Tamara Lorenz praktiziert, erinnert an naturwissenschaftliche oder philosophische Versuchsanordnungen. Es käme ihr ohnehin nicht in den Sinn, einen Ausschließlichkeitsanspruch der Kunst auf Kreativität zu postulieren. Was zählt, ist das Individuum in seinem Streben nach Erkenntnisgewinn. In ihrem erweiterten Kunstverständnis gehen Fotografie und Skulptur enge, sich gegenseitig befruchtende Beziehungen ein, aber auch Architektur, Film und Musik spielen als Kategorien der Gestaltung eine tragende Rolle, und – last but not least – die Sprache.

 

2005 führte Lorenz unter dem gemeinsamen Oberbegriff Pragmatische Prinzipien drei aufeinander aufbauende Versuchsreihen durch: die Simulatoren, die Phänotypen und die Tipis. Der vorgestellte Kontext suggeriert eine gewisse Verwandtschaft und einen Zusammenhang, der mit der Terminologie wieder aufgebrochen wird. Diese setzt sich zusammen aus Begriffen so unterschiedlicher Bereiche wie dem der Technik, der Genetik oder der Ethnologie. Die Begrifflichkeit eröffnet dem Gestaltungsspielraum immer wieder neue und weitere Denkräume.

 

Bei anderen Werkgruppen mit Titeln wie Höhere Mächte (2007), Gewaltenteilung (2007) oder Axiome (2009) werden ebenfalls bereits auf der sprachlichen Ebene Verknüpfungen hergestellt. Höhere Mächte verweist im Kunstkontext geradezu zwangsläufig auf Sigmar Polkes Inkunabel Höhere Wesen befahlen: rechte obere Ecke schwarz malen! von 1969. Gewaltenteilung ist ein Schlüsselbegriff des demokratischen Staates und Axiome erinnert an die 5 pragmatischen Axiome von Paul Watzlawik zur menschlichen Kommunikation. Damit werden die bildnerischen Ergebnisse in anderen Arbeitsfeldern verankert. Ihnen wird ein gesellschaftlich relevanter, ästhetischer, politischer oder kommunikationswissenschaftlicher Bezug als Vergleichsgröße beigemessen.

 

Wie lässt sich nun eine Beobachtung darstellen, die von sich nicht beansprucht, eine unabhängig gegebene Realität abzubilden oder auch nur zu repräsentieren? Eine Beobachtung, die nicht die Wirklichkeit erfasst, sondern Modelle dieser Wirklichkeit, deren Objektivität oder Wahrheit jedoch nicht in direkter Korrespondenz mit einer unabhängig gegebenen Realität überprüfbar wären, sondern nur durch positive Kriterien der Brauchbarkeit, der Nützlichkeit, des Passens, der Durchführbarkeit, der Lebbarkeit oder durch negative Kriterien des Widerstands, des Scheiterns und Fehlschlagens gekennzeichnet sind. (3)

 

Die Konstruktionen, die Tamara Lorenz in ihren analogen Fotografien abbildet oder repräsentiert, sind solche Modelle. Modelle, deren Existenz einzig und allein der Ontogenese des Wahrnehmungs-, Denk- und Erinnerungsvermögens dient. Sei es als in einer Raumecke aufgebaute Konstruktion aus Holzlatten, -brettern und -stäben wie bei den Simulatoren, die aus zwei verschiedenen Standpunkten fotografiert werden, so dass der Betrachter oder die Betrachterin, zwischen zwei gleichermaßen wahren Bildern hin- und hergerissen, sich ermächtigt fühlen darf, die tatsächliche Situation im Raum rekonstruieren zu können. Bis er feststellt, dass die verdoppelten Informationen der besseren räumlichen Verortung nicht dienlich sind – im Gegenteil. Die aus unterschiedlichen Perspektiven gewonnenen Aussagen scheinen teilweise widersprüchlich. Sei es, dass wie bei den Axiomen mittels Ausleuchtung oder einer zwischen Boden und Wand eingezogenen Papierbahn die räumlichen Verhältnisse gänzlich außer Kraft gesetzt werden, während ausgeklügelte Schattenwirkungen der Gegenstände für eine Art Subtext sorgen. Die aus dem gerade Verfügbaren zusammengesetzten Gegenstände – man erkennt Vierkanthölzer, Metallstäbe, Formen aus Karton – und ihre Schatten lassen sich schließlich nicht mehr voneinander unterscheiden, vor allem, wenn wie in der Gruppe der ProZOrd (2010–2012) der Hintergrund mit tiefschwarzem Molton ausgelegt ist.

 

Auch die neuen Fotografien zeigen eine im ersten Moment klare Situation, die sich zu einer logisch nicht nachvollziehbaren Komplexität verdichtet. Sie zu betrachten heißt, sich selbst beim Sehen zuschauen. Linien fluchten in den Tiefenraum und klappen wieder zurück zur Fläche, um plötzlich wieder nach vorne, aus dem Bild heraus zu stoßen. Flächen werden zu Körpern und dann wieder zu einer nach vier Seiten abgeschlossenen Hohlform, deren strikte Begrenzungen die filigranen Linien einer Raumzeichnung spielerisch durchkreuzen. Wie es sich für Modelle gehört, trägt das bühnenhaft eingesetzte Licht viel zu den irritierenden Kippmomenten zwischen dreidimensionaler Körperlichkeit und planer Fläche bei. Es scheint gleichzeitig aus dem Raum der Betrachtung und aus dem Bild selbst zu kommen.

 

Perspektive, Distanzen, Proportionen und Gewichtung, Entmaterialisierung und haptische Dinghaftigkeit an widerständigen offenen Rändern – die kompakten, kulissenhaften Sets transportieren eine nicht an der Realität überprüfbare Verschmelzung verschiedener Ebenen mit unklarer Referenz. Der Wirklichkeitsverweis ist da, aber wie bei einem Kaleidoskop in viele Teilchen zersplittert. Die Fotografie generiert ihre eigene mediale Realität analog zur Paradoxie der Wirklichkeit. Und offenbar simuliert diese Parallelwelt Wirklichkeit in einer Form, die dem Gehirn reichlich Reflexions- und Wahrnehmungsfutter anbietet: Wir stehen staunend davor und sind mit allen Sinnen gefesselt. Wir stürzen in ein Abenteuer, das so nur die Imagination bietet. Und das ich bisher nirgends besser formuliert fand, als in dem eingangs zitierten Gedankengang von Donna Tartt, dessen zweiter Teil folgendermaßen lautet: Denn zwischen der `Realität´ auf der einen Seite und dem Punkt, an dem der Geist die Realität trifft, gibt es eine mittlere Zone, einen Regenbogenrand, wo die Schönheit ins Dasein kommt, wo zwei sehr unterschiedliche Oberflächen sich mischen und verwischen und bereitstellen, was das Leben nicht bietet: und das ist der Raum, in dem alle Kunst existiert und alle Magie. (4)

 

Sabine Elsa Müller

 

 

1. Donna Tartt, Der Distelfink, 2013, zitiert nach der deutschen Ausgabe, 2. Auflage 2013, S. 1021

2. Der Radikale Konstruktivismus ist vor allem mit den Namen dreier österreichischer Emigranten verknüpft, die sich in Kalifornien niederließen: Ernst von Glaserfeld (1917 – 2010), Heinz von Foerster (1911 – 2002) und Paul Watzlawik (1921 – 2007).

3. Hans Dieter Huber, Kunst als soziale Konstruktion, München, 2007, S. 30

4. siehe Anm. 1, ebda.

 

 

 

 

 

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