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Peter Bialobrzeski

Habitat

 

14.01. - 11.03.2012

 


Für mich ist ganz wichtig, dass ein Bild den Betrachter verzaubern kann. Aber dann muss es Fragen aufwerfen, eine zweite Ebene besitzen. So kommen Journalismus und Kunst zusammen.“

Peter Bialobrzeski

 

Ah, le voilà, le roi des indiscrets!“   Aristide Briand

 

 

 

Habitat heißt die fotografische Trilogie, zu der Peter Bialobrzeski seine Werkserien Case Study Homes, Informal Arrangements und !Nail Houses? gebündelt hat. Bei allen drei Projekten fällt zunächst auf, dass die Kamera den Sujets weitaus näher kommt, als dies noch in seiner Arbeit Neon Tigers (2004) der Fall war. Neon Tigers war Bialobrzeskis erfolgreicher Versuch, seine Vision der asiatischen Megacity des 21. Jahrhunderts als komplizierte Maschinerie und hypertrophes Gebilde extremer Künstlichkeit in Szene zu setzen. Die vorzugsweise aus erhöhtem Blickwinkel bei Dämmerlicht entworfenen Panoramen geben Ausblicke auf das komplexe strukturelle Gefüge des urbanen Raums und verführen durch die Faszination betörender Farbpaletten und dem Bild der Stadt als glühender, energiegeladener Leuchtkörper. Der gekonnte kompositorische Gestus einer bildnerischen Verquickung des analytischen Blicks auf die Vielschichtigkeit des Urbanen und der gleichsam malerischen Betrachtungsweise seiner grandiosen Irrealität setzte neue Standards der Dokumentation unserer hypermodernen Lebenswelten.

 

Bialobrzeskis Ansatz einer Verschmelzung von Dokument und künstlerischer Vision ist in vergleichbarer Weise auch bei Michael Wolfs zeitgleicher fotografischer Auseinandersetzung mit der modernen asiatischen Großstadt feststellbar. Dessen Projekt Hong Kong Inside Outside (2009) setzt auf andere Weise das Habitat Hong Kong als Superlativ ins Bild. Ebenfalls aus erhöhter und distanzierter Perspektive aufgenommen, erreichen seine „no-exit-for-the-eye“-Frontalaufnahmen von Wolkenkratzern einen hohen Grad an Abstraktion. Komplementär zu diesen kühlen all-over-Aufsichten porträtierte er im Rahmen dieses Projektes 100 Innenräume gleicher Bauart eines abbruchreifen Wohnblocks im Shep Kip Mei-Viertel und deren Bewohner.

 

Die dort dokumentierte Ärmlichkeit und räumliche Bedrängnis sowie die Reduktion des häuslichen Komforts auf das absolut Elementare finden sich wiederum in radikalisierter Ausprägung in Bialobrzeskis Slumhütten der Serie Informal Arrangements (2010) wieder. Hier werden Einblicke in die Innenräume der elenden, aus Abfällen der Industriegesellschaft errichteten Behausungen in Kliptown bei Johannesburg gewährt, einem Elendsviertel, das sich in unmittelbarer Nähe des für die WM 2010 errichteten Fußballstadions befindet. Hier formulierte 1955 der sogenannte Volkskongress die „Freedom Charter“ und forderte Demokratie, Gleichberechtigung und Menschenrechte. Diese Charta der Apartheid-Gegner ist bis heute das politische Basisdokument des ANC. Trotz aller politischen Bemühungen mangelt es gleichwohl auch heute noch in dem Bezirk an hygienischer Grundversorgung, Kanalisation, Müllbeseitigung und Strom. Die hier hausenden Menschen warten vergeblich auf den seit Jahren versprochenen Neubau von Wohnraum.

 

Ähnlich wie Michael Wolf begibt sich Bialobrzeski direkt in die improvisierten, klaustrophobisch wirkenden Hüttenkonstruktionen, blendet aber deren Bewohner konsequent aus, wenn er auf die improvisierte Einrichtung der Unterkünfte fokussiert. Durch Frontalansicht und Objektnähe wird ein starkes Gefühl der Beklemmung und Ohnmacht vermittelt. Im gleichen Zuge wird der Blick frei auf strukturelle Zusammenhänge, das surreale In- und Gegeneinander des als Tapetenersatz zum Einsatz kommenden heterogenen Abfallmaterials wie Vorhänge, Teppiche, Plakate, Werbeanzeigen, Kalender etc., deren Zweck sich darin erfüllt, den Interieurs der tristen Wellblechbaracken eine Spur von Wohnlichkeit und Intimsphäre zu verleihen.

Ungleich eines Mikhael Subotzky, der in seiner fotografischen Studie zu Beaufort West das unmittelbare soziale Umfeld im Blickfeld behält, lehnt Biaolobrzeski die direkte, an der menschlichen Dramatik orientierte Dokumentation von Konflikt und Elend ab und filtriert seine Aussage über die Eigendynamik des materiellen Substrats.

 

„Am Anfang kann ich meine Faszination nicht in Worte fassen. Cris, meine Begleiterin, eine Fernsehautorin und Fotojournalistin, erklärt, Baseco sei besonders, weil es der einzige Slum der Stadt sei, der auf weißem Sand gebaut ist, zwischen zwei Containerterminals im alten Teil von Metro Manila, direkt am Strand. Eigentlich will ich anderes fotografieren, Strukturen auf die Metaebene heben, vom Feldherrenhügel die Welt kontrollieren. Plötzlich kontrolliert die Welt mich. Was macht diese Anziehung aus? Darf man das, den Ausdruck bitterster Armut faszinierend finden?“ So beginnt Peter Bialobrzeskis Einleitung zu seinem Fotobuch Case Study Homes (2009), das eine Serie von 58 „in vermeintlicher 1-A-Lage“ nahe dem Hafen Manilas stehenden Hütten eines Squatter Camps enthält.

 

Der ironische architekturhistorische Verweis des Buchtitels auf das amerikanische "Case Study Houses-Programm" der Nachkriegszeit zur Entwicklung experimenteller und kostengünstiger Modellhäuser wirkt hier wie ein Vexierspiegel. Die inzwischen zu Ikonen der Stararchitektur avancierten, lichtdurchfluteten Glastempel im Großraum von Los Angeles wirken gegenüber den Dritte-Welt-Baracken der Philippinen wie real gewordene euphorische Science-Fiction-Visionen einer besseren Welt. Der damals möglich gewordene bautechnische Fortschritt im Umgang mit neuartigen Materialien mündet 60 Jahre später in die Verwendung des über die Ozeane verbreiteten Zivilisationsmülls, der von den Ärmsten in Form von Strandgut zur Errichtung ihrer notdürftig auf Stelzen hochgezogenen Trutzburgen dient.

 

So sehr Bialobrzeski von der wilden Schönheit und anarchischen Formenvielfalt des Slums spontan eingenommen wird, so formstreng bleibt doch der künstlerische Ansatz. Die Betrachtung erfolgt in strenger typologischer Reihung der Einzelobjekte. Unterstützt durch den bewölkten Himmel und die dadurch ermöglichte neutrale Ausleuchtung, den gleichförmigen, sandfarbenen Untergrund des Strands sowie die konstante Betrachtungsdistanz, ist eine versachlichende Neutralisierung gewährleistet, die es erlaubt, die texturalen wie farblichen Oberflächenqualitäten der Konstruktionen herauszuarbeiten.

 

Menschen, wie auch das weitere urbane Umfeld, kommen, wenn überhaupt, nur beiläufig und ausdruckslos ins Bild. Die Vereinzelung und Kontextlosigkeit der Gebäude akzentuiert die allgemeine Tristesse, gleichzeitig jedoch auch die geradezu würdevolle Erscheinung der Behausungen. Diese eigentümliche Stimmungslage aus Verlassenheit, Stille und Trotz lässt u.a. an die melancholische Ausstrahlung der Architekturfotografien von Walker Evans denken. Die abstrahierende Isolierung der Bautypen zu eigenständigen skulpturalen Gebilden mit je eigenen Materialqualitäten konnotiert zudem materialästhetische Kunststrategien der Avantgarden des 20. Jahrhunderts wie die Assemblagen Schwitters' sowie Rauschenbergs und Burris Sacchi. Kein Vergleich drängt sich jedoch eher auf wie der der Anonymen Skulpturen von Bernhard und Hilla Becher, insbesondere die eher grobschlächtig und primitiv wirkenden, vornehmlich aus Holzplanken gezimmerten Förderkonstruktionen der Bergwerke West-Pennsylvanias. Vielleicht hatte die Suche der Bechers nach einer auf rein technischen wie ökonomischen Prinzipien basierenden Ästhetik der Kargheit einer untergehenden Industriearchitektur in den Pennsylvania Coal Mine Tipples ihre vollendete und fragilste Form von Architektur als Materialplastik mit eminent surrealen Qualitäten gefunden.

 

Der Rekurs auf das Becher-Erbe lehrt zudem, dass uns der unaufgeregte Fokus auf Formprinzipien näher an das Dokument heran lässt als dessen anekdotische Dramatisierung. Auch Bialobrzeskis diskreter, kühl-analytischer Herangehensweise gelingt es, jenseits kunsthistorischer Analogien, seinem Betrachtungsgegenstand einen fotografischen „Raum“ zur Entfaltung seiner unangetasteten Aura und Würde zu belassen.

 

Mit seiner neuesten Serie !Nail Houses?, dem dritten Teil der Habitat-Trilogie, die im Forum für Fotografie erstmals in Auszügen der Öffentlichkeit präsentiert wird, kehrt Bialobrzeski nach China zurück, um sich mit einer weiteren, sozial wie politisch brisanten Thematik auseinanderzusetzen. Die Werkserie zeigt Wohnhäuser in Shanghai, die vor der ungebremsten Modernisierung weichen müssen; einem Fortschritt, der sich vor allem in profitablen Shopping Malls, Wolkenkratzern und gigantischen Luxushotelanlagen manifestiert. Die chinesische Wortschöpfung "Nail House" spielt auf die Widerspenstigkeit von Nägeln an, die sich nicht herausziehen lassen und bezeichnet Häuser, deren Bewohner bis zum letztmöglichen Zeitpunkt versuchen, sich gegen den Abriss ihres Heims zur Wehr zu setzen. Trotz der vom Staat gewährleisteten finanziellen Kompensation wartet auf die Betroffenen neben dem Verlust ihrer vertrauten Umgebung auch die Umsiedlung in oft weit entfernte städtische Randbereiche. Das Phänomen der Nail Houses fand aufgrund der zum Teil erbitterten Reaktionen der Bewohner auch ein breites Echo in den chinesischen Medien.

 

Schaut man die wie Ruinen wirkenden, stark beschädigten Häuser an, wird die Aussichtslosigkeit des Ausharrens ablesbar und es scheint nur eine Frage der Zeit (und der eingesetzten Druckmittel), bis auch der letzte Oppositionswille gebrochen ist und auch diese Häuser verschwunden sein werden. Dass sie überhaupt noch bewohnt sind, wird überhaupt erst in diesen Fotografien erkennbar, die Bialobrzeski nach Einbruch der Dunkelheit aufgenommen hat, um durch ein Licht im Fenster oder einen Lichtreflex unter der Tür die letzten Lebenszeichen dieser bald ausgelöschten Häuser aufzunehmen, die wie beschädigte Festungen wirken, deren Widerstand vergeblich scheint. Hinter den Einzelschicksalen geraten Chinas radikale städtebauliche Umwälzungen ins Blickfeld mit dem damit einhergehenden Verlust historisch gewachsener Bausubstanz und Urbanität.

 

Mit !Nail Houses? schafft Bialobrzeski eine ästhetische Synthese seines bisherigen fotografischen Werkes. Die bereits in Neon Tigers und Lost in Transition entwickelte Lichtregie wird aufgegriffen und auf neue Weise zur Herausarbeitung eines Einzelphänomens und dessen typologischer Untersuchung zum Einsatz gebracht, wie dies bereits in Case Study Homes und Informal Arrangements erfolgte. Treu bleibt Bialobrzeski dabei dem großen Thema des Transitorischen als räumliches Phänomen der strukturellen Komplexität, des sozialen Wandels und der künstlerischen Herausforderungen.

 

Treffend wurde diese Ästhetik von Michael Glasmeier beschrieben: „Aus der Prosa des haltlos Diffusen erwächst eine Poetik der leuchtenden Objekte, die sich bezeichnenderweise im Zwielicht besonders detailliert umsetzt. Bialobrzeski (…) findet sein ideales Licht in der Dämmerung, also auch wieder in einem transitorischen Zwischenbereich. Es ist ein Möglichkeitslicht für Möglichkeitsräume, ein Licht, das sich nicht aufdrängt, das nicht im Mittelpunkt stehen will und doch den Dingen erlaubt, in ihrer eigenen Bedeutung zu strahlen.“ 1)

Thomas Appel

 

1) Michael Glasmeier, in: „Peter Bialobrzeski. Lost in Transiton“, Hatje Cantz Verlag, 2008

 

Copyright:

Für die Serie Informal Arrangement:

Courtesy Robert Morat Galerie Hamburg, Peter Bialobrzeski

Für die Serie Case Study Homes:

Courtesy LA Galerie Frankfurt, Peter Bialobrzeski

Für die Serie !Nail Houses?:

Courtesy Peter Bialobrzeski

 

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