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Willy Römer

Alltag und Epoche 1918 bis 1945

 

8. April - 12. Juni 2005

 

 

Willy Hermann Robert Römer war das vierte — und zweitjüngste — Kind des Berliner Schneidermeisters Jacob Römer (geboren am 12. Mai 1843) und seiner zweiten Ehefrau Anna Helene Alvine Römer, geborene Heinz. Das Ehepaar hatte drei Söhne und zwei Töchter, die alle in dem Jahrzehnt zwischen 1881 und 1891 geboren wurden. Der Vater Jacob Römer war schon einmal verheiratet gewesen und hatte einen Sohn aus dieser ersten Ehe. Als Katholik konnte er nicht noch einmal kirchlich heiraten, weshalb sich auch in den Kirchenbüchern kein Trauungseintrag findet. Die Familie lebte damals in Berlin in der Lothringer Straße 57- der nachmaligen Wilhelm-Pieck-Straße, die jetzt wieder Torstraße heißt-, unweit des Rosenthaler Platzes, also in einer Straße, an der noch 100 Jahre zuvor mit der Nordgrenze der barocken Stadterweiterung die Stadt zu Ende gewesen war. Nördlich davon hatten sich in der Zwischenzeit Brauereien und Fabriken angesiedelt und Arbeiterwohnquartiere nach sich gezogen, südlich davon war die Innenstadt bis zum Hackeschen Markt und dem neu entstandenen Viadukt der Stadtbahn von Wohnungen, Geschäften und kleineren Handwerksbetrieben geprägt.

 

Am 1. April 1903 begann Willy Römer eine Lehre bei der Berliner Illustrations-Gesellschaft. Dies war die erste Firma in Berlin, die sich ausschließlich der Herstellung und dem Vertrieb von Pressefotos widmete. Sie war im Jahre 1900 von drei ehemaligen Schulfreunden gegründet worden: Karl Ferdinand Delius, Martin Gordan und Heinrich Sanden. Hier arbeitete damals die »erste Garde« der Berliner Pressefotografen, von denen sich einige später selbständig machten. Heinrich Sanden war der kaufmännische Leiter, er hatte vorher bei einer Bank gearbeitet. Karl Delius, der vor der. Jahrhundertwende zwei Semester an der Berliner Kunstakademie studiert hatte, war der künstlerische Leiter und Lehrmeister von Willy Römer. Martin Gordan, Sohn eines wohlhabenden Schuhhändlers, wollte heiraten und musste seinen Schwiegereltern eine eigene »Existenz« nachweisen. Er wird wohl das Gründungskapital eingebracht haben. So entstand die Berliner Illustrations-Gesellschaft in der Königgrätzer Straße 62, heute Stresemannstraße, in der Nähe des Anhalter Bahnhofs.

 

Willy Römer erhielt im ersten Lehrjahr 20, im zweiten 25 und im dritten Jahr 30 Reichsmark Monatslohn. Vom 15. März 1908 bis zum 21. September 1909 und vom 1. August 1910 bis zum 31. Juli 1912, insgesamt dreieinhalbe Jahre lang, arbeitete er bei seinem früheren Lehrherrn Karl Delius (inzwischen: Charles Delius) in Paris. Dort war vom 2. August 1908 bis zum 1. August 1914 auch Walter Bernstein beschäftigt, der spätere Kompagnon Willy Römers. Wahrscheinlich haben beide in diesen Jahren so viel Französisch gelernt, wie sie für den täglichen Umgang brauchten.

 

Vom 15. August 1912 bis zum 31. März 1913 arbeitete Römer bei der Firma Internationale Illustrations-Co. in Berlin, vom 1. Juni bis zum 30. Oktober 1914 bei der Pressebildagentur Robert Sennecke und vom 1. November 1914 bis zum 10. März 1915 wieder bei der Berliner Illustrations-Gesellschaft. Wie fast alle Pressefotografen seiner Generation hatte Willy Römer das Fotografieren also »von der Pike auf« in der Praxis gelernt.

 

Vom 12. März 1915 bis zum 24. November 1918 war Willy Römer Soldat, er wurde zuerst in Russland und Polen, später in Flandern eingesetzt, als einfacher Infanterist, nicht als Kriegsfotograf. Gleichwohl hatte er seine schwere 13 x 18-Kamera mit ins Feld genommen. Als die Front im Frühjahr 1916 in Russisch-Polen/Weißrussland zum Stehen gekommen war, verließ er hin und wieder die Truppe, um das Leben der armen Bauern auf dem Lande zu fotografieren. Er hat außerdem Marktszenen in Lida (Weißrussland) und Suwalki (Russisch-Polen, heute Polen) und das Straßenleben der ärmeren jüdischen Bevölkerung in der Umgebung von Warschau (das damals ebenfalls zu Russisch-Polen gehörte) dokumentiert. Insgesamt sind etwa 100 Aufnahmen von kleinstädtisch-jüdischem Straßenleben in der Umgebung von Warschau und rund 250 aus dem ländlichen Raum in Weißrussland erhalten, viele davon nur als Negative ohne Abzüge.

 

Nachdem Römer vorher die Großstadt Paris kennen gelernt und fotografiert hatte, war das nun eine ganz andere, viel ärmere, wahrscheinlich auch exotische Welt. Kontrasterlebnisse für einen jungen Mann, der mit 21 Jahren nach Paris und nun mit 28 ins polnisch-russische Grenzgebiet gekommen war, beides geografisch wie mental gleich weit entfernt von dem Berliner Handwerkermilieu, in dem er aufgewachsen war. Er näherte sich dieser fremden Welt mit Empathie und Interesse. Wahrscheinlich konnte er sich irgendwie mit den Menschen verständigen, die ihn sonst wohl kaum in ihre Wohnungen gelassen und ihn bei ihrer Arbeit hätten zuschauen lassen. Er beobachtete intensiv ihre Kultur und Lebensweise. Jedenfalls nahm er sie als Kultur wahr und ernst, ihre Andersartigkeit ließ sie ihm bildwürdig erscheinen. Eigentümlich ist, dass es sich bei diesen Aufnahmen nicht um Kriegsfotos handelt. Es sind nicht die Kameraden oder Vorgesetzten, militärischen Unterkünfte oder Befestigungen, Bunker oder Schlachtfelder, Zerstörungen oder Verwundungen, die Willy Römer aufnimmt, sondern das Leben der einfachen Menschen hinter der Front, abseits des Kriegsgeschehens. Es ist als benutzte Willy Römer die Tatsache, dass er nun einmal durch den Krieg in eine entfernte, fremde Welt gekommen war, um für sich das Beste aus der Situation herauszuholen: nämlich Bilder. Als er später, lange nach dem Zweiten Weltkrieg, seine Negative sortierte und von den interessantesten neue Abzüge im Format 18 x 24 cm anfertigte, hat er von diesen »Russland«-Fotos einen eigenen Ordner angelegt, den er seinen Besuchern gerne zeigte. Soweit wir wissen sind diese Bilder bisher nie veröffentlicht worden.

 

Willy Römer ist auch später innerhalb des mitteleuropäischen Kulturkreises viel gereist. Die jüdisch-kleinstädtische und die bäuerliche Kultur im russischen Polen des Jahres 1916 sollte die fremdeste bleiben, der er in seinem langen Leben mit der Kamera in der Hand begegnet war.

 

Als Willy Römer Ende November 1918 nach Berlin zurückkam, war hier die Revolution im Gange. Mit seiner 13 x 18-Nettel-Deckrullo-Plattenkamera ging er auf die Straße und hielt fest, was ihm bedeutsam erschien: Demonstrationen, Kämpfe, Barrikaden, Wachposten, Sanitäter, schließlich auch die Spuren der Kämpfe: zerstörte Häuser, Plätze und Straßen. Er dokumentierte die Dezemberereignisse 1918 mit den Kämpfen um das Berliner Stadtschloss, die Januarkämpfe 1919, die später von den Gegnern der Revolution als »Spartakusaufstand« bezeichnet wurden, und den blutigen Bürgerkrieg im März 1919. Dabei gelangen ihm im spärlichen Winterlicht einige meisterhafte Aufnahmen.

 

In mehreren Aufnahmen fotografierte Römer Karl Liebknecht bei seinen letzten öffentlichen Ansprachen, später dokumentierte er auch die Beerdigungen von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg. In der Sondernummer Berliner Sturmtage, die die Berliner Illustrirte Zeitung Ende Januar 1919 herausbrachte, war Willy Römer mit 16 Fotos (die dort mit dem Namen seiner Firma Photothek gekennzeichnet sind) der meistpublizierte Fotograf. Insgesamt hat Willy Römer in den Revolutionswochen zwischen Dezember 1918 und März 1919 über 200 Aufnahmen gemacht, von denen einige inzwischen zu »Ikonen« der Revolution geworden sind, freilich ohne dass man den Namen des Fotografen erfuhr.

 

Während des Kapp-Putsches 1920 fotografierte er die Truppenbewegungen in Berlin, später die Rheinlandbesetzung und den Abzug der alliierten Truppen aus dem Ruhrgebiet. Bemerkenswert ist, dass die französischen Besatzungssoldaten auf seinen Fotos nicht unsympathisch erscheinen – was vielleicht darauf zurückzuführen ist, dass er ihnen während der Aufnahme etwas auf Französisch zugerufen haben könnte.

 

Noch im Jahre 1918 übernahm Willy Römer von seinem Kollegen Robert Sennecke die Firma Photothek in der Belle-Alliance-Straße 82 mitsamt der dazugehörigen Wohnung – das Haus steht noch, heute lautet die Adresse Mehringdamm 58. Um die gleiche Zeit heiratete er die acht Jahre jüngere Charlotte Michel, geboren am 24. Februar 1896, die als Waisenkind bei einer Tante aufgewachsen war und deshalb keine Mitgift in die Ehe einbringen konnte. Während Willy Römer kontaktfreudig, aufgeschlossen und gesellig war, galt Charlotte Römer als ruhig und zurückhaltend. 1922 wurde als einziges Kind die Tochter Ursula Römer geboren.

 

Die Firma Photothek war zum ersten Mal am 15. Januar 1914 unter dem Namen Photothek Willy Michaelis ins Berliner Handelsregister eingetragen und am 31. Juli 1918 auf Robert Sennecke umgeschrieben worden. Sennecke behielt seine eigene Firma am Halleschen Ufer 9, die noch bis zu seinem Tod Ende der dreißiger Jahre weiterbestand. Willy Michaelis hatte um 1918/19 einen Postkartenverlag, der unter anderem auch die von Willy Römer fotografierten Revolutionsmotive als Postkarten vertrieb.

 

DIE PHOTOTHEK; WALTER BERNSTEIN Am 11. Februar 1920 war Walter Bernstein als kaufmännischer Leiter und Textredakteur in die Firma eingetreten, die am 31. März 1920 unter dem Namen Photothek Römer & Bernstein in das Handelsregister eingetragen wurde. Willy Römer und Walter Bernstein kannten sich aus ihrer gemeinsamen Zeit bei ihrem vormaligen Chef und Lehrmeister Karl Delius in Paris. Es ist möglich, dass sie schon damals die Idee entwickelt hatten, einmal eine gemeinsame Firma zu gründen. Walter Bernstein, geboren am 26. Januar 1890 in Berlin, war zwei Jahre jünger als Willy Römer, er hatte vom 2. Juli 1908 bis zum 1. August 1914 bei der Agence de Reportage Photographique Charles Delius in der Avenue Trudaine Nr. 31 in Paris gearbeitet, war vom 5. August 1914 bis zum 17. Juli 1917 bei der »Berliner Illustrationsgesellschaft als Leiter der Buchhalterei, der Kasse und später der Redaktion tätig«. Die Familien waren befreundet, auf manchen Fotos aus der Mitte der zwanziger Jahre sieht man die beiden kleinen Mädchen Hilde Bernstein und Uschi Römer zu Rundfunk- oder Schallplattenmusik tanzen. In den prosperierenden Jahren machten Römers und Bernsteins öfters gemeinsam vier bis sechs Wochen Sommerurlaub in Ahlbeck an der Ostsee. Auch Silvester wurde gemeinsam und mit weiteren Freunden oder Verwandten gefeiert, wovon ebenfalls Fotos zeugen.

 

Willy Römer und Walter Bernstein entwickelten ihre gemeinsame Firma zu einem erfolgreichen Unternehmen. Sie beschäftigten zeitweise bis zu vier weitere Fotografen, so genannte Operateure — Walter Stiehr, Ernst Gränert, Germain Haine und Walter Obschonka —, außerdem Sekretärinnen, Laboranten und Botenjungen, so dass in den besten Zeiten etwa zehn bis zwölf Menschen für die Firma tätig waren. In weniger guten Zeiten oder wenn Arbeiten von besonderer Dringlichkeit sich häuften, mussten wohl auch die Frauen der beiden Chefs mit zugreifen. Da die Archivabzüge in aller Regel gestempelt wurden und der Stempel eine Spalte »Operateur« hatte, in die der Name des Fotografen eingetragen wurde, lässt sich bei den bis heute erhaltenen Fotos meistens noch gut nachweisen, welche Aufnahmen von wem gemacht wurden.

 

In jener Zeit wurde es mit dem Urheberrecht noch nicht so genau genommen wie heute. Die bei einer Pressebildfirma angestellten Fotografen besaßen in der Regel keine eigene Kamera. Die relativ schweren und teuren Apparate waren Eigentum der Firma, selbstverständlich wurden auch die Glasnegative und die übrigen Materialien von der Firma gestellt. Die Arbeitsergebnisse, die belichteten Negative wie die Abzüge, gehörten dann mit allen Verwertungsrechten den Firmeninhabern, der einzelne Fotograf erhielt nur den Monatslohn. So war es Willy Römer ergangen, solange er bei Karl Delius und anderen angestellt war, so hielt er es nach 1924 selbstverständlich auch mit seinen Angestellten. Deren Aufnahmen befinden sich zum Teil noch heute in dem erhaltenen Photothek-Archiv. Auch kam es vor, dass ein Fotograf bei einem Anlass, zu dem sein in einer anderen Agentur beschäftigter Kollege nicht anreisen konnte, zwei Aufnahmen von derselben Situation machte und eine davon seinem Kollegen überließ, der sich bei nächsten Gelegenheit mit einer vergleichbaren Dienstleistung revanchierte.

 

Willy Römer ist selbst viel in Europa gereist. Er ist in den zwanziger Jahren noch einmal in Paris gewesen, außerdem in Antwerpen, Amsterdam, Alkmaar und Kopenhagen. Aus vielen deutschen Städten gibt es Aufnahmen von Markt- und Straßenszenen, prominenten Gebäuden, Museen und ihren Sammlungen, gelegentlich auch Stadtansichten. Besonders eindrucksvolle Aufnahmen hat Willy Römer in Danzig und Umgebung gemacht. Wo es sich anbot, wurde vielleicht auch mal ein Familienurlaub mit einem Fototermin verbunden, zum Beispiel bei Ausflügen in den Spreewald oder wenn Frau und Tochter als Statisten die Stärke der tausendjährigen Eichen von Ivenack in Mecklenburg demonstrieren durften. Die Fotos aus ländlichen Gegenden zeigen sein Interesse an volkskundlichen Themen wie Trachten, Bräuche, Volkskunst, Handwerk und historische Architektur.

 

Die wirtschaftliche Blütezeit der Photothek dürfte das Jahrzehnt von 1919 bis 1929 gewesen sein, nach der Weltwirtschaftskrise 1929/30 und unter dem zunehmenden Druck der anglo-amerikanischen Konkurrenz wurde das Überleben schwieriger.

 

NS-ZEIT, FIRMENSCHLIESSUNG ZWEITER WELTKRIEG Gleich in den ersten Monaten der nationalsozialistischen Herrschaft wurde die Photothek als »Judenfirma« denunziert, weil Walter Bernstein als einer der beiden Inhaber jüdischer Abstammung war. Er war zwar nicht religiös, bezeichnete sich selbst als »Dissident«, aber er hatte einen jüdischen Vater. Das genügte, um der gesamten deutschen Presse zu verbieten, von der Photothek auch nur ein einziges Pressebild zu beziehen. Vor dem Haus Belle-Alliance-Straße 82 bauten sich am 1. April 1933 SA-Männer auf. Als Walter Bernstein dagegen protestierte, dass sie ihn am Betreten seiner Firma hindern wollten, schlugen sie ihn. Die Photothek war von einem Tag auf den anderen ihrer Geschäftsgrundlage beraubt, ihre Arbeit wurde von anderen Pressebildfirmen übernommen, die keinen jüdischen Mitinhaber hatten. Die Photothek teilt in dieser Hinsicht das Schicksal einer ganzen Reihe von Berliner Pressebildagenturen, deren Inhaber, Teilhaber oder Geschäftsführer ebenfalls jüdischer Herkunft waren. Dazu gehören die Presse-Photo GmbH (Schiffrin und Feinschreiber), die Deutsche Presse-Photo-Zentrale (Hans und Fritz Basch), die Dephot (Simon Guttmann), die Weltrundschau (Rudolf Birnbach), Mauritius (Ernst Mayer) und Yva (Else Neuländer-Simon). Einige dieser Menschen konnten durch Emigration ihr Leben retten, andere, wie Dr. Erich Salomon und Else Neuländer-Simon, wurden in Konzentrationslagern ermordet.

 

Die Photothek musste Konkurs anmelden, alle Mitarbeiter wurden gleich im Frühjahr 1933 entlassen. Große Teile des Inventars und des privaten Besitzes der Familie Römer wurden gepfändet, darunter das eichene Herrenzimmer, auf das man so stolz war. Am 30. September 1935 wurde die Firma endgültig geschlossen, am 10. März 1937 die Auflösung ins Handelsregister eingetragen. Willy Römer versuchte, als Einzelfotograf Arbeit zu finden und bei ehemaligen Kollegen und Konkurrenten um Aufträge zu bitten. Die Familie Römer musste die Geschäftsräume und die große Wohnung in der Beletage der Belle-Alliance-Straße 82 aufgeben und zog in eine kleinere Wohnung in der Körtestraße 2, zwei Kilometer weiter östlich, in der Nähe des Südsterns. Da Willy Römer nie ein Auto besaß, war ihm die Nähe der U-Bahn-Station wahrscheinlich wichtig. Die Gesamtheit der Glasnegative, das Bildarchiv der Firma Photothek wurde geteilt. Willy Römer bekam seine eigenen Aufnahmen und den größten Teil, möglicherweise auch die Walter Bernstein die Kleinbildfilme und damit wohl vermutlich die neueren Aufnahmen der anderen Fotografen. Bei der Trennung soll es zum Streit gekommen sein, weil die Familie Römer, deren Wohnung mit der Firma Photothek räumlich verbunden war, die finanzielle Last des Konkurses allein tragen musste. Die Familie Bernstein wohnte in Tempelhof und konnte ihre Wohnung behalten. Walter Bernstein schrieb einen Brief an Adolf Hitler, den er mit »Excellenz« anredete. Er verwies darauf, dass er im Ersten Weltkrieg für Deutschland gekämpft hatte und mit einer Arierin verheiratet sei. Er bat darum, dass das Berufsverbot gegen ihn aufgehoben werde und dass er in der Pressebildbranche als Bürokraft eine Arbeit annehmen dürfe. Der Brief wurde nie beantwortet. Walter Bernstein war zuckerkrank, vermutlich haben die Turbulenzen dieser Jahre seiner Gesundheit zusätzlich geschadet. Er starb am 22. Januar 1938. Seine Frau und seine Tochter haben die Hitlerzeit unbehelligt überlebt.

 

Bis zu seinem Tod arbeitete Walter Bernstein vertragslos und heimlich in einem Hinterzimmer der Berliner Pressebildzentrale Braemer u. Güll, ebenso seine Frau bis zur behördlichen Schließung der Firma im Oktober 1944. Wilhelm Braemer (1887–1970), einer der beiden Inhaber, war ein Berliner Pressefotograf der alten Schule und gut mit Römer und Bernstein bekannt. Die Räume der PBZ Braemer & Güll in der Friedrichstraße 214 wurden im Februar 1945 durch Bomben zerstört, dabei verbrannten auch die von Walter Bernstein übernommenen und dort eingelagerten Bildbestände der Photothek.

 

Willy Römer war mit seinem Anteil in die Körtestraße umgezogen, wo die Kontaktabzüge fast vollständig und die Glasnegative zu knapp 90 Prozent den Krieg überstanden. Das Haus, in dem die Römers lebten, war nicht bombardiert worden, so konnten sie 1943/44 für mehrere Wochen eine befreundete Familie aufnehmen, die in einem anderen Stadtviertel ausgebombt worden war. Womit Willy Römer in den Jahren 1937 bis 1941 sein Geld verdiente, konnte bislang nicht ermittelt werden. Im Januar 1942 wurde er nach Posen kriegsdienstverpflichtet und arbeitete dort bis Ende 1944 als Fotograf für den Ostdeutschen Beobachter, das amtliche Organ der NSDAP im Reichsgau Wartheland. Warum er diese Stelle bei einer Parteizeitung antrat, obwohl es doch eben diese Partei war, die ihn neun Jahre zuvor um seine wirtschaftliche Existenz gebracht hatte, ist nicht bekannt. In Posen wurde er – wahrscheinlich nicht auf eigenen Wunsch, sondern auf Geheiß der Redaktion – am 1. April 1942 in die NSDAP aufgenommen. Da er als einziger fest angestellter älterer Fotograf vermutlich als »Bildschriftleiter« galt, war es ihm wohl unmöglich, nicht in der Partei zu sein. Die Aufnahmen, die unter seinem Namen im Ostdeutschen Beobachter veröffentlicht sind, zeigen, wie lustlos er den Parteiauftrag erfüllte und seinen Vorgesetzten genau das lieferte, was sie sehen wollten: Uniformen, Fahnen, NS-Symbole, statuarische Rituale. Auf diesen Bildern gibt es keine eigene Sicht, nichts Persönliches, nichts Narratives, nichts menschlich Anrührendes wie 26 Jahre zuvor in der östlichsten – damals russischen – Region von Polen, in dessen westlichster – nun wieder deutscher – er jetzt tätig war.

 

Anfang 1945 war Willy Römer wieder in Berlin und musste die Zerstörung der Stadt – besonders auch die des Zeitungsviertels am 3. Februar 1945 – miterleben. Wahrscheinlich ist er, wie so viele andere, in den letzten Kriegstagen noch zum Volkssturm oder zum Luftschutz eingezogen worden. Nachkriegszeit Nach Kriegsende machte Willy Römer Aufnahmen von den zerschossenen prominenten Gebäuden der Stadt, dem Reichstag, dem Brandenburger Tor, dem Stadtschloss et cetera, und dies wohl mit der Absicht, sie als Echtfoto-Postkarten an Besatzungssoldaten zu verkaufen. Offenbar hatte er seine Kameras über das Kriegsende und die ersten Monate der Besatzungszeit hinwegretten können. Dann versuchte er sich mit kleinen Aufträgen von Berliner Bezirksverwaltungen zu Themen wie Enttrümmerung, Wiederaufbau, Richtfeste und so weiter über Wasser zu halten. Die meisten Aufnahmen dieser Zeit sind – etwa im Unterschied zu denen von Fritz Eschen und Friedrich Seidenstücker – so trostlos, wie ihm die Stadt Berlin damals erschienen sein mag.

 

1947 wurde Willy Römer 60 Jahre alt. Von dem, was er sich bis zu seinem 45. Geburtstag am 31. Dezember 1932 erarbeitet hatte, war ihm außer dem Bildarchiv, für das sich aber nun kaum jemand interessierte, nichts geblieben. Seine Heimatstadt und besonders sein früheres Wirkungsfeld, das Zeitungsviertel, waren zerstört. Als Willy Römer das 65. Lebensjahr überschritten hatte und keine Besserung der wirtschaftlichen Lage für ihn und seine Frau in Sicht war, mussten die beiden noch einmal umziehen: aus der größeren, helleren Wohnung Körtestraße 2 in eine kleine, dunkle Hinterhofwohnung in der Mommsenstraße 23 in Charlottenburg. Willy Römer wollte die Körtestraße eigentlich nicht verlassen, der Realitätssinn seiner »beiden Frauen« wird ihn zum Umzug gezwungen haben. Immerhin bot die neue Wohnung im Hochparterre rückseitig den Ausblick auf ein paar Quadratmeter Grün. Entscheidend war jedoch, dass sie kleiner und deshalb billiger war. Das Bildarchiv musste nun teilweise in den Keller verfrachtet werden, aus dem Willy Römer die Glasplatten, mit denen er gerade arbeiten wollte, in einer Blechtrage für Briketts nach oben trug. In der Speisekammer richtete er sich eine sehr enge Dunkelkammer ein. In den letzten 25 Lebensjahren bis zu seinem Tode am 26. Oktober 1979 scheint Willy Römer im Wesentlichen mit der Pflege und Aufarbeitung seines Archivs beschäftigt gewesen zu sein. Er reinigte die Glasplatten, machte neue Abzüge im Format 18 x 24 cm und schrieb ausführliche Bildunterschriften dazu. Auf diese Weise legte er im Laufe der Jahre 33 Ordner mit je 35 bis 75 Aufnahmen an, insgesamt ein Korpus von über 2 000 Aufnahmen, die er gern zeigte, wenn jemand ihn besuchte, der sich dafür interessierte.

 

LEBENSENDE Außer ein paar belanglosen Artikeln, die zu seinem 80. Geburtstag erschienen, ist Willy Römer zu seinen Lebzeiten nie in der Weise gewürdigt worden, wie es seinem Werk angemessen gewesen wäre. Er teilte in dieser Hinsicht das Schicksal anderer hervorragender Pressefotografen seiner Generation wie Walter Gircke, Alfred Groß, Otto Haeckel, Willi Ruge und Robert Sennecke. Nur Philipp Kester hat vor kurzem in Dirk Halfbrodt seinen fachkundigen Biografen gefunden. Als er die 90 überschritten hatte, ist Willy Römer, der nie über irgendwelche Gebrechen klagte, dann doch noch krank geworden. In der Todesanzeige, die nur von Frau, Tochter und Schwiegersohn unterzeichnet ist, steht, er sei »nach langem Leiden« im 92. Lebensjahr am 26. Oktober 1979 in Berlin gestorben.

 

NACHLASS Nach Willy Römers Tod verkauften seine Frau und seine Tochter zunächst die Münzen- und die Briefmarkensammlung. Ein Antiquar holte die wertvolleren Bücher und erwarb einige Autografen von hoch gestellten Persönlichkeiten, die Willy Römer porträtiert hatte. Der Berliner Werbefotograf und Fotografica-Sammler Werner Umstätter kaufte im Frühjahr 1980 die Kameras: eine Leica, eine 9 x 12-Goerz-Anschütz, eine Klapp-Primar und eine Nettel-Zeiss-Ikon, alle mit starken Gebrauchs-spuren. Umstätter hatte im Laufe der Jahre eine umfangreiche Sammlung von Fotoapparaten aufgebaut, die er dann nach Japan an einen der größten Fotohändler der Welt verkaufte, der ein privates Fotomuseum plante.

 

Heute befinden sich Willy Römers Kameras bis auf eine, die in Berlin verblieb, im Rahmen dieser Sammlung im Yodobashi-Museum in Tokio. Charlotte und Ursula Römer bemühten sich fast zwei Jahre lang, einen Käufer für das Fotoarchiv zu finden. Sie boten es dem Ullstein-Bilderdienst, dem Bundespresseamt, dem Bertelsmann-Lexikon-Verlag und anderen potenziellen Interessenten an: alles vergeblich. Schließlich setzten sie eine Anzeige in das Heft 5/1981 der Fachzeitschrift Journalist mit dem Text: »Bedeutendes Bildarchiv zu verkaufen. Großer historischer Wert. Über 60 000 Fotos und 7 000 Porträts deutscher Geschichte 1906-1936. Alle Ereignisse vom Bildjournalisten festgelegt.« Diese Anzeige las Diethard Kerbs. Er bemühte sich dann im Auftrag der Nachkommen noch einmal, das Archiv bei einer öffentlichen Institution des Landes Berlin unterzubringen: Landesarchiv, Berlinische Galerie, Landesbildstelle und so weiter - alle lehnten es ab, sich dieses bedeutende historische Bildarchiv anzunehmen. Nach mehreren Monaten vergeblicher Bemühungen erwarb Diethart Kerbs das Achiv schließlich mit großer persönlicher Anstrengung selbst. Der große Aufwand der sorgfältigen Bewahrung und Bearbeitung des Archivs wird von ihm bis heute getragen. Die Ausstellungen der Fotografien Willy Römers in Berlin und Köln vom 27. Oktober 2004 bis 24. Februar 2005 konnten unter großem öffentlichen Interesse ausgewählte Teile dieses Archivmaterials im erhaltenen Original oder als Austellungsvergrösserungen vorhandener Negative im Deutschen Historischen Museum in Berlin gezeigt werden.

 

Zu der Ausstellung „Auf den Straßen von Berlin. Der Fotograf Willy Römer, 1887- 1979“ gab Diethart Kerbs einen umfangreichen Katalog mit dem gleichen Titel heraus (DruckVerlag Kettler, ISBN 3-937390-31-6). Die im vorliegendem Text zusammengefassten Informationen über Willy Römer sind ausnahmslos diesem Katalog entnommen. Die vom 9.4. bis 12.6.2005 im Kölner Forum für Fotografie gezeigte Ausstellung Willy Römer - Alltag und Epoche – 1918 bis 1945 beinhaltet neben einer Auswahl Berliner Fotografien wichtige und noch nie öffentlich gezeigte Fotografien Willy Römers aus Köln, den Rheinlanden und dem Ruhrgebiet. Die Bilder sind überwiegend in den zwanziger und dreißiger Jahren entstanden, als Willy Römer neben vielen Deutschen Regionen auch Frankreich, Holland und Dänemark bereiste. Die Fotografien zeigen, wie großstädtisch Köln in dieser Epoche geprägt war und wie sich hier Willy Römer zugleich überraschende Bildmotive anboten, wie z.B. ein südländisch anmutendem Taubenmarkt, Kinderarbeit auf Wäschereischiffen,, das Leben mit den alliierten Besatzungssoldaten und schließlich Dokumente des Erstarkens des Nationalsozialismus.

 

Mein ausdrücklicher Dank gilt Diethart Kerbs, dem Bewahrer des Bildarchivs von Willy Römer. Die Kuratierung und Vorbereitung dieser Ausstellung wurde ganz wesentlich von Stefanie Ketzscher unterstützt, die auch schon neben Diethart Kerbs und Andreas Hallen bei der Ausstellungskonzeption der Berliner Ausstellung beteiligt war. Ihre große Detailkenntnis des Bildarchivs von Willy Römer hat es erst möglich gemacht, das hier gezeigte Bildmaterial über Köln und die Rheinlande zu zeigen.

Norbert Moos

 

 

Willy Römer wurde am 31. Dezember 1887 in Berlin geboren. Nach dem Schulbesuch begann er als Fünfzehnjähriger am 1. April 1903 eine Lehre bei der Berliner Illustrations-Gesellschaft, der ersten professionellen Pressebildagentur in Berlin. In den Jahren von 1908 bis 1912 arbeitete Willy Römer bei seinem Lehrherrn Karl Delius in Paris, danach bei verschiedenen Pressebildfirmen in Deutschland. Hier lernte er das Fotografieren von der Pike auf. Von 1915 bis 1918 war Römer Soldat an verschiedenen Fronten. Während des Militäreinsatzes in Polen und Weißrussland fotografierte er 1916 aus eigenem Antrieb das Leben der russischen Bauern auf dem Lande, Markt- und Straßenszenen. Als Willy Römer Ende November 1918 nach Berlin zurückkam, war hier die Revolution ausgebrochen. Römer dokumentierte die Ereignisse auf den Straßen und wurde zu einem der wichtigsten Bildberichterstatter über die Revolution 1918/19 Berlin. Anschließend übernahm er die Pressebildfirma Photothek und machte sich gemeinsam mit dem Kaufmann Walter Bernstein selbständig. Die Firma Photothek Römer & Bernstein bestand von ihrer Gründung im Februar 1920 bis zu ihrer Schließung am 30. September 1939 durch die Nationalsozialisten. Die Bildagentur war eine der wichtigsten Pressebildfirmen der Weimarer Republik. Walter Bernstein war Jude, weshalb man die Firma 1933 als „Judenfirma” denunzierte. 1937 wurde sie aus dem Handelsregister gestrichen, Bernstein starb ein Jahr später. Römer musste die Firmenräume aufgeben und in eine kleinere Wohnung umziehen. 1942 erhielt er eine Dienstverpflichtung an eine NS-Zeitung nach Posen. 1945 kam er zurück nach Berlin und fotografierte nun die zerstörte Stadt. In seinen letzten 30 Lebensjahren versuchte Römer mit abnehmendem Erfolg, vom Vertrieb seiner Fotos zu leben. Er beschäftigte sich mit der Aufarbeitung seines Archivs, mit der Ordnung und Beschriftung der ihm wichtigen Fotos. Willy Römer starb am 26. Oktober 1979.

Diethart Kerbs

 

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