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Clemens Kalischer

The Invisible Photographer

 

10. Januar - 22. Februar 2009

 

 

Man muss den richtigen Moment abwarten können, ein stummes Zwiegespräch mit den Menschen führen.  (Clemens Kalischer)

 

Jugendliche in den Straßen New Yorks, Arbeiter in den Kohlegruben Pennsylvanias, dörfliches Leben oder Flüchtlinge mit Kisten und Koffern aus Hitlers Europa am Hafen von New York: Clemens Kalischer dokumentiert mit seinen Schwarzweiß-Fotografien Augenblicke des menschlichen Alltags, denen nichts Spektakuläres anhaftet. Bezwingend an den Momentaufnahmen sind vielmehr deren Unmittelbarkeit und Klarheit. Kalischer zeigt uns Menschen in ihren sozialen Zusammenhängen, die ihn interessieren und bewegen; seine Bilder erzählen Geschichten, die wir nicht kennen, uns aber unwillkürlich dazu veranlassen, sie zu erfinden und weiterzudenken.

 

So emotional Kalischer die Welt um sich herum wahrnimmt, bleibt sein Blick als Künstler stets distanziert und frei von Sentimentalität und Urteil. Er interpretiert und kommentiert nicht, deckt nichts auf, klagt nichts an. Indem Kalischer den Menschen, die er ablichtet, nie zu nahe tritt, gelingt es ihm, als Fotograf "invisible" zu bleiben. Selbst in seiner bewegenden Fotoserie von Flüchtlingen, den "Displaced Persons", behält er, der selbst eine displaced person ist, Distanz und mischt sich nicht ein: Die Gesten der Menschen sprechen für sich, keine Botschaft des Künstlers stört das Gegenüber von Bildmotiv und Betrachter.

 

Ein typisches Kalischer-Foto legt keine bedeutungsvollen Ebenen zwischen den Betrachter und das Motiv; es vermittelt stattdessen das Gefühl, der Fotograf habe einfach einen Moment im Strom des Lebens herausgegriffen und ihn in der Emulsion erstarren lassen. (Miles Unger)

 

Dass der Künstler sämtlichen Dogmen und Ismen ablehnend gegenübersteht, ist nicht allein biografisch bedingt; dieser Widerstand gründet sich vor allem in seinem Selbstverständnis als Fotograf: Behindern doch solche Filter die direkte, unvoreingenommene Betrachtung der Welt.

 

Die sowohl handwerklich als auch und künstlerisch hochwertigen Fotografien von Kalischer sind stark von der Architektur der Orte geprägt; dennoch dominiert, von wenigen Ausnahmen abgesehen, der Ort nicht, sondern bleibt stets mit den Menschen verbunden, die hier leben und arbeiten, ankommen oder abreisen. Kalischer erzwingt und arrangiert sein Motiv nicht; er durchstreift die Umgebung, in der er sich gerade befindet, spürt besondere, vorübergehende Momente der Normalität auf und fängt sie mit seiner Kamera ein. Viel Geduld hat er dabei für die "stummen Zwiegespräche" mit den Menschen. So zeigen sich dem Betrachter authentische Standbilder unserer Welt, die nichts Fragwürdiges und Falschen an sich haben, weil ihnen das Manipulierte, Verzerrte oder Irreführende fremd ist.

 

Berühmtheiten finden sich nur sporadisch in Kalischers Werkfundus. Es sind Künstler aus seiner unmittelbaren Umgebung: Leonard Bernstein, Pablo Casals, Frank Lloyd Wright, Oskar Kokoschka, Ornette Coleman, Max Roach oder Mahalia Jackson.

 

Clemens Kalischer ist ein typischer Vertreter der klassischen Fotografie des 20. Jahrhunderts. 1921 in Lindau geboren und in Berlin aufgewachsen, muss Kalischers Familie 1933 Deutschland verlassen. In Frankreich studiert er zunächst, bis er als deutscher Jude 1939 interniert wird. Drei Jahre in acht Internierungslagern folgen. 1942 kann Kalischer dank der Hilfsorganisation von Eleanor Roosevelt mit einem Notvisum in die USA fliehen. In New York studiert er an der New School Fotografie und beginnt seine Karriere als Fotograf. Seinen ersten Auftrag erhält er von der France Press Agence, für die er die letzte Fahrt der Normandie fotografisch dokumentiert. Bald darauf erhält er Aufträge von der New York Times, für die er bis heute arbeitet. Seine Motive sind zunächst die Straßen und Menschen New Yorks. 1955 gelingt ihm der internationale Durchbruch als Fotokünstler mit seiner Beteiligung an der Ausstellung The Family of Man im New Yorker Museum of Modern Art. Heute lebt Kalischer im Bundesstaat Massachusetts.

 

Estella Kühmstedt

 

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