Schatten und Leere
von Thomas Linden
„Stehenbleiben, sich zurückhalten heißt Leere in sich zu schaffen.“ Simone Weil
Zwei Meister der Leere
Man muss gehört haben, wie Andreas Walther über Taiwan spricht. Über das ‚Prinzip des menschlichen Wohlwollens‘, welches das Miteinander der Menschen prägt, über eine innovationsfreudige Gesellschaft, die zugleich in Teilen die Traditionen und Werte der alten chinesischen Kultur lebendig erhält und über eine Insel, die mit einer beeindrucken Natur gesegnet ist. Im Grunde klingt das nach einem Paradies. Die Hälfte des Jahres lebt er dort, fotografiert und unternimmt Wanderungen in den Wäldern, zeigt seine Arbeiten in Ausstellungen und tritt in Künstlergesprächen in direkten Kontakt mit dem Publikum.
Walther studierte an der Kunsthochschule für Medien in Köln und verfügt über eine hohe Kompetenz im Bereich der digitalen Bildbearbeitung. Ästhetisch prägte ihn später jedoch der philosophische Daoismus. Dass seine Wanderungen „ziellos“ sind, gehört für ihn schon zum ästhetischen Verständnis. Denn dem liegt die Intention zu Grunde, die üblichen Konventionen der Bildgestaltung, wie etwa die Zentrierung, möglichst hinter sich zu lassen. Für Walther gilt es, den Faktor Zeit bzw. den Moment, in dem er den Auslöser der Kamera betätigt, auch physisch aufzuheben, weil diese Konzentration auf den ‚photographischen Moment‘ für ihn in Widerspruch zur Prozesshaftigkeit des Lebens tritt. Wie ein Zen-Bogenschütze hat er gelernt, das Auslösen geschehen zu lassen und dabei nicht mehr den Atem anzuhalten.
Statt einem Willen zu folgen, versetzt sich Andreas Walther in einen Zustand. Nicht das Motiv ist ausschlaggebend, sondern die Atmosphäre. „Es ist notwendig, dass über das Visuelle hinaus, auch die Akustik des Waldes, das Rauschen der Blätter, und der Geruch der Erde in das Bild Eingang finden“, sagt er. Statt vom Intellekt, soll die Fotografie vom Körper ausgelöst werden.
Die Bilder von Andreas Walther sind nicht auf ein dominierendes Motiv hin ausgerichtet. Es gibt keine visuelle Hierarchie von Haupt- und Nebensache. Die Frage nach etwaiger Bedeutung wird obsolet, weil alle Details gleich notwendig sind. Sollte ein Detail die visuelle Aufmerksamkeit zu sehr auf sich ziehen, dämpft Walther diese Stelle in der digitalen Nachbearbeitung. So kultiviert er nicht nur eine unterschiedslose Verteilung des Lichts, sondern gleichfalls eine des Schattens. Nichts bündelt unseren Blick beim Betrachten, das Auge darf wandern.
Die Natur als Resonanzraum
Auf diese Weise wendet sich Andreas Walther vom Landschaftsverständnis der abendländischen Malerei ab. Dem galt die Landschaft als ein vom Menschen gemachtes Abbild innerer Welten. Walther sucht hingegen nicht nach Analogien. Für ihn eröffnet sich hinter dem Bild nicht die Bühne eines psychischen Geschehens. Seine Arbeitsweise basiert darauf, eine Haltung einzunehmen. Kein Ziel zu haben, ist für seine Wanderungen eine essenzielle Voraussetzung, um an einem namenlosen Ort stehenbleiben zu können. Seine Aufmerksamkeit ist dann nicht mehr gerichtet, sondern sie gehört einer sich öffnenden Atmosphäre, „in der sich der Geist beruhigt und einen Zustand innerer Leere erzeugt“, wie Andreas Walther erklärt.
So ist es nicht mehr die Landschaft, die auf seinen Bildern für die Betrachtenden zum Resonanzraum wird, sondern die Natur.
Resonanz konnten Walthers Arbeiten auch im Schaffen des taiwanesischen Künstlers Lin Chun-chen hervorrufen, der als Professor für Kalligraphie in Lukang lehrt. Er schafft ebenfalls durch die Erzeugung einer Atmosphäre einen Zustand der Leere in sich, bevor der eigentliche Schreibimpuls einsetzt. Lin Chun-chen spricht von einer lustvollen Erwartung, der ihn vor der Aktion erfasst. Zunächst macht er sich jeweils mit den Arbeitsgeräten vertraut, prüft die vielfältigen Charakteristika des Pinsels, reibt den Tuschstein und schreibt Zeichen nach, um sich in einen Zustand der inneren Leere zu versetzen. Erst dann beginnt der Schreibakt mit dem Ansetzen des Pinsels, seinen Schwüngen und Wechseln und den unterschiedlichen Rhythmusfolgen. Der Bogen Reispapier liegt dabei auf dem Boden, während der Kalligraph über ihr agiert und die Bewegungen seines Körpers Spuren auf dem handgeschöpften Papier hinterlassen. Das, was wir auf den Papierbögen sehen, ist letztlich die lebendige Bewegung des Kalligraphen.
Atemräume der Leere
So bedeutsam wie dem Fotografen das Licht, ist dem Kalligraphen das Papier. Aus seinem Weiß „schält er das schwarze Zeichen heraus“, wie Lin Chun-chen erklärt. Wobei die Leere nicht mit dem Nichts zu verwechseln ist. Gleich einem Haus oder einer Schale stellt sie ein Behältnis dar, durch das das Seiende erscheinen kann. Weil das Haus leer ist, kann es Bewohner in sich aufnehmen. Die Schale vermag Inhalte zu fassen, weil sie über eine Höhlung verfügt. So unterscheidet sich die Leere vom Nichts durch ihre Fülle und ihr bereitgehaltenes Potenzial, das Zukunft verheißt. Wie das Licht kennt sie keine Abgrenzung. In den Fotografien von Andreas Walther erzeugen die Bildränder keine Konzentration auf das Zentrum, sondern vermitteln uns den Eindruck, dass sich der jeweilige Landschaftsausschnitt zu allen Seiten hin fortsetzen könnte. Die Natur kennt keine Begrenzung. Es ist die Atmosphäre, die sich in den Arbeiten von Andreas Walther als Gefühl in der Erinnerung festsetzen.
In einer Arbeit, die zu einer eigenen Serie mit dem Titel „Leere“ gehört, formuliert Lin Chun-chen diese Entgrenzung im Schweigen der Landschaft, im Lärm der Menschenwelt und dem Klang der Wälder. Wobei die Akustik der verschiedenen Lebensräume nahtlos ineinander übergeht. Es gibt keinen Beginn und kein Ende. Es ist diese Wahrnehmungsweise, die die Welt nicht als Summe einzelner Teile, sondern als Universum begreift, in dem alles mit allem verbunden ist, die beiden Künstlern zu eigen ist. Deshalb sucht man auch in jenen Fotografien von Andreas Walther vergebens nach einem Anfang und einem Ende, die amorphe Oberflächenstrukturen zeigen, denen wir nichts an Bekanntem an die Seite stellen könnten. Folgerichtig werden sie als „Unbenannt“ ausgewiesen. LinChung-chen dokumentiert seinerseits die Erforschung der Leere in einer Kalligraphie mit den Worten:
„Ein Kreis – ohne Anfang, ohne Ende. Ein einziger Strich: Ein Mond im Leeren: Da erkennt das Herz die Wahrheit.“
Köln, September 2025
Simone Weil: Cahiers: Aufzeichnungen, S. 12. München 1996