Essay zur Fotografie #5

 

Chargesheimer / Kölner Südstadt / Eusebius Wirdeier

Im Forum für Fotografie Köln

Zwei Chronisten eines Lebensgefühls

Warum hat er so viele Fotografien von einem einzigen Sujet aufgenommen? Das ist die Frage, die sich angesichts der Bildserie stellt, die Karl Heinz Hargesheimer, der sich selbst Chargesheimer nannte, am 8. April 1956 in der Kölner Südstadt fotografierte. Wenn Chargesheimer einen Auftrag zu erledigen hatten, fuhr er üblicherweise an Ort und Stelle und begnügte sich mit einer einzigen Aufnahme. Heutigen Nutzern einer Digitalkamera mag das unvorstellbar sein. Bei Chargesheimers Arbeitsweise gelangten mitunter sieben von acht Aufnahmen, die ein Filmstreifen enthielt, in das fertige Buch. Sein Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten muss grenzenlos gewesen sein.

Diese und viele andere Fakten wären ohne die umfangreichen Recherchen von Eusebius Wirdeier unentdeckt geblieben. Im Zuge seiner Arbeit an den „Fotogeschichten Sülz und Klettenberg 1955-1985“ stieß er auf unbekannte Fotografien von Chargesheimer. Chargesheimer hatte häufiger als bisher angenommen in der Kölner Südstadt fotografiert. Über Monate hinweg sichtete Wirdeier Aufnahmen aus dem 40.000 Negative umfassenden Bestand des Rheinischen Bildarchivs. Hier befindet sich auch jenes Archiv aus Schuhkartons, in dem Chargesheimer seine Arbeiten aufbewahrte. Solche Devotionalien - wie auch die monströs wirkende Linhof Super Technika III 6 x 9, mit der er bevorzugt arbeitete - sind jetzt in der Ausstellung Chargesheimer / Kölner Südstadt / Eusebius Wirdeier im Forum für Fotografie Köln zu sehen.

Auffallend war jenes Konvolut vom 8. April 1956, dem Weißen Sonntag eine Woche nach Ostern, an dem die katholischen Kinder ihre Erste Heilige Kommunion empfangen. Ein Tag mit Schneeregen. Wie kalt es gewesen sein muss, verrät der Blick eines frierenden Mädchens, das mit dem Milchkännchen in der Hand zum Lebensmittelgeschäft der Niedeckens an der Severinstorburg geschickt worden war, lose Milch zu holen. Wenig später eilen Familien mit den Erstkommunikanten durch die vom Krieg noch schwer gezeichneten Straßen. Ziel ist St. Severin, wo Chargesheimer von der Empore aus die 90-köpfige Kinderschar vor dem Altar fotografieren konnte. Als interessierter Beobachter des sozialen Lebens auf der Straße lässt er sich nicht die Momente entgehen, in denen die Familien nach der Messe noch auf dem Vorplatz der Kirche ein Schwätzchen halten. Warum hat er eine komplette Fotoreportage über diesen Tag angelegt, wenn die erste Redaktionssitzung zum Buch Cologne intime erst zwei Monate später stattfand und die Aufnahmen letztlich unveröffentlicht blieben? Das Rätsel bleibt ungelöst. Die Negative wurden vom Rheinischen Bildarchiv für diese Ausstellung auf Baryt-Papier abgezogen und besitzen nun eine außerordentliche Plastizität. Chargesheimers tiefes Interesse am Leben der Menschen vor seiner Kamera wird in den Aufnahmen der jungen Frauen deutlich, die nach Schichtende aus der Schokoladenfabrik Stollwerck nach Hause streben. Oder dem Gemüsehändler, der vor seinem Geschäft die Straße fegt, der Oma, die in ihren alten Pantoffeln auf der Türschwelle steht. Ihm entgeht aber auch nicht der Polizist in gleicher Pose, dessen blitzblanke Stiefel ungute Assoziationen wachrufen.

Das wiederentdeckte Bild

Chargesheimer war ein Straßenfotograf, der den unmittelbaren Kontakt zu den Menschen suchte und sie auch ansprach, um dann auf den Auslöser zu drücken. Eine Praxis, die man selbst bei amerikanischen Fotografen dieser Zeit eher selten findet. So muss er wohl auch scherzend auf die drei Männer Ecke Landsbergstraße und Severinstraße zugegangen sein. Eine Kreuzung, die aus nicht mehr als zwei Straßenschildern bestand, hinter der sich auch zehn Jahre nach dem Kriege noch die Spuren wüster Zerstörung zeigen. Eine zweifelhafte Berühmtheit erlangte dieses Bild, da der damalige Leiter des Verkehrsamtes Hans Schmitt-Rost, in der Bildunterschrift der späteren Publikation Cologne intime in die Nähe von Gelegenheitsdieben rückte. Wogegen sich die drei Männer jedoch juristisch erfolgreich zur Wehr setzten. Chargesheimer beschnitt die Aufnahme, sodass neben den dreien nur jener Mann links auf dem Fahrrad, der sich offenbar im Dialog mit dem Hund befindet, zu sehen war. Wirdeier fand jedoch das Original, das in der Komposition wie ein Tafelbild angelegt ist. Auf ihm taucht noch ein Mann am rechten Bildrand auf, der bedächtig seine Pfeife rauchend die Szene betrachtet. Mit ihm als Beobachter im Bild wird auch der Fotograf und das Fotografieren selbst zum Thema.

In den Monaten vor und nach der Pandemie ist Eusebius Wirdeier den Routen gefolgt, die Chargesheimer durch die Südstadt zurückgelegt hat und suchte dessen Sichtachsen. Das heutige Leben in diesen Straßen ist von wesentlich mehr Bewegung gekennzeichnet. Die Frauen auf dem Bild richten ihren Blick aufs Handy. Angesichts des Schriftzugs Make Kölsch Not War auf der Tasche einer Radlerin stellt sich Wirdeier die Frage: „Wenn wir uns damals in der Nachkriegszeit befanden, wo befinden wir uns heute?“

Während Chargesheimer selbst durch sein Agieren mit den Menschen vor seiner Kamera zu einem Teil des Geschehens wurde, nimmt Wirdeier die Haltung eines Beobachters ein. Mit dem Werk von Chargesheimers ist der heute 75-jährige Eusebius Wirdeier seit Kindertagen vertraut. Stand doch jener legendäre Bildband Cologne intime schon für die Kinder griffbereit im Regal des Elternhauses in Köln-Weidenpesch.

Ein engagierter Fotograf

Das geduldige Beobachten zählt zu Wirdeiers besonderen Talenten. Darüber wird ihm die Zeit zum Verbündeten. Als einer der ersten Fotografen dokumentierte er in den frühen 1990er Jahren die Proteste im Braunkohlerevier, zu denen damals keine Demonstranten anreisten, sondern die noch lokalen Charakter besaßen. In seiner Dokumentation einer Eisenwarenhandlung in Köln Sülz, die den Titel „Die Wunderkammer der Agnes Bosen“ trug, maß er die Tiefe der Zeit aus. Wie subversiv ausdauernde Beobachtung sein kann, bewies er in seiner über mehr als zehn Jahre währenden Langzeitstudie des sogenannten „Kölner Lochs“, das sich am Neumarkt nach dem Abriss der Kunsthalle auftat. Eine kulturvergessene Politik hatte Köln um eine ihrer bedeutendsten kulturellen Errungenschaften gebracht. In einer gedächtnisarmen Epoche ist es tröstlich, dass jemand wie Eusebius Wirdeier die städtischen Katastrophen dokumentiert, zu denen später auch der Einsturz des Stadtarchivs gehörte - das dazugehörige Loch erfasste Wirdeier ebenfalls im Bild. Gleichwohl ist Eusebius Wirdeier kein Misanthrop. Mit der Kamera begleitete er etwa die Restaurierungen an der romanischen Severinskirche und schuf damit neue Verständniszugänge für den Kirchenbau. In Vorarbeit ist ein weiterer Fotoband, der die sich über fünf Jahre erstreckende Sanierung von St. Pantaleon dokumentiert.

Eusebius Wirdeier ist ein Bildchronist, der den Betrachtern die Resultate politischer Entscheidungen und ihrer Konsequenzen für den Stadtkörper vor Augen führt. Es zählt nicht das eine Bild für ihn, das alles erklären soll. Die Fotografie führt einen Kampf um die Bedeutung des Moments, der von den fortlaufenden Ereignissen dem Vergessen anheimgegeben zu werden droht. Ein Kampf gegen die Zeit. Wirdeier spielt ein anderes Potenzial der Fotografie aus, indem er die Zeit für sich zu gewinnen vermag. Seinen Langzeitbeobachtungen liegt Engagement zugrunde, das er aber nicht vor sich herträgt. Es offenbart sich erst im Lesen der Bilder. So kann man in seinen Fotografien der Kölner Südstadt die besondere Vitalität und ein gewisses Wohlsein erspüren, das die Menschen in diesen Aufnahmen zeigen. Bilder, die inzwischen schon wieder historisch anmuten. Die Welt scheint sich immer schneller zu drehen, gut dass jemand da ist, der sie für uns im Bild festhält.

 

Thomas Linden, April, 2025