Essay zur Fotografie #4

 

Ich war immer dabei

Annette Wolff: Entdeckung einer großen Fotografin

Im Forum für Fotografie Köln

 

 

Es gehört zur Geschichte der Fotografie als Medium der Moderne, dass sie immer wieder um Namen und Werke ergänzt werden muss, die das Licht der öffentlichen Aufmerksamkeit bisher noch nicht erfasst hat. Vor allem die Talente der Frauen wurden oftmals übersehen. Dabei wird die Kamera schon in den 1920er Jahren zu ihrem bevorzugten Instrument, mit dem sich die Frauen ihren Blick auf die Welt eroberten. So muss es auch der 1906 in Straßburg geborene Annette Beiger ergangen sein, die dort 1919 den Arzt und Fotografen Dr. Paul Wolff kennenlernte. 1920 besaß sie ihre erste Kamera. Paul Wolff wurde zu einem der erfolgreichsten Fotografen seiner Zeit, und dokumentierte 1926 mit dem Neuen Frankfurt die Siedlungsprojekte des Architekten Ernst May. 1927 gründete er mit seinem Kollegen Alfred Tritschler in Frankfurt die Agentur Dr. Paul Wolff und Tritschler. Annette Beiger arbeitete dort zunächst im Archiv, später assistierte sie Wolff und agierte oftmals als Model bei seinen Fotoreportagen. Die beiden heirateten 1939 und trennten sich zehn Jahre später. Annette Wolff kehrt zurück in ihre Heimatstadt Straßburg. Nach dem Tode von Paul Wolff im Jahre 1951 verwaltete sie dessen Nachlass. Im Anschluss baute sich eine Existenz als selbständige Fotografin auf und arbeitete für Magazine, Museen, Modezeitschriften und die Agentur Mainbild.

 

Eine Meisterin der Genres

 

Zu diesem Zeitpunkt beherrschte sie das Metier schon mit großer Souveränität. Der Titel ihrer Ausstellung mit Arbeiten aus den 1930er Jahren im Forum für Fotografie Köln lautet „Ich war immer dabei“ und fand sich als handschriftliche Bemerkung auf der Rückseite einer Fotografie. Tatsächlich gehörte Annette Wolff nicht nur bei vielen Aufträgen zum Team, sondern fotografierte selbst für die Agentur von Wolff und Tritschler. Die übliche Praxis jener Jahre sah allerdings vor, dass die Arbeiten der Mitarbeiter unter dem Namen der Agentur veröffentlicht wurden. So geschah es auch mit Annette Wolffs Aufnahmen. Das ließ ihr Selbstverständnis jedoch nicht zu, und so strich sie auf der Rückseite der Abzüge den Agenturstempel durch und ersetzte ihn durch die Signatur Annette Wolff.

Dass Annette Wolff – die 2002 mit 96 Jahren in Saumur an der Loire starb – eine große Fotografin war, beweist nicht alleine ihr handwerkliches Können, mit dem sie visuelle Akzente in der Bildkomposition setzte, und den Raum im subtilen Dialog zwischen Vordergrund und Hintergrund zu gestalten wusste. Sie beherrschte die unterschiedlichsten Genres und Sujets vom Porträt über die Mode, die Industrie, die Architektur, die Fotoreportage oder die Straßenfotografie. Der Schlüssel zu ihrem Werk scheint in ihrem untrüglichen Gespür für den Raum zu liegen. So vermochte sie die Tiefe und damit die Verheißung, die ein Raum in sich birgt, ebenso auszumessen, wie sie den taktilen Reiz von Oberflächen und Ornamenten erfassen konnte. Die Idee, die hinter einem architektonischen Entwurf steht, wird so für die Betrachtenden sofort im Bild nachvollziehbar. Sie besaß das besondere Talent, auch scheinbar unattraktive Sujets interessant zu machen. Das beweist sie in ihren Fotoreportagen aus der Welt der Industrie, wenn sie das sinnliche Potenzial der unterschiedlichen Materialen visuell auszuspielen vermochte. So zeigt sie etwa einen Arbeiter beim Verladen von großen Metallrohren. In dem Maße, in dem sich sein Körper den Formen des Materials anpasst, entsteht im Bild Bewegung. Dieses ästhetische Verständnis der Arbeitswelt verleiht den Menschen in ihr eine besondere Würde.

 


Ein Blick für die Geste


Besonders virtuos entfaltet sich das Spiel von Nähe und Distanz in ihren Fotoreportagen. Ob beim Hausbau oder bei der Weinlese, der Blick der Kamera erfasst mal im Detail die Verrichtungen der Hände und zeigt uns dann wieder die ganze Szenerie, in der sich die Aktionen abspielen. Auf diese Weise erfasst Annette Wolff ein komplettes Milieu. Ein tiefes Interesse an der Welt kommt darin zum Ausdruck, das eben auch die Menschen mit einschließt. Ihre besondere Meisterschaft als Fotografin zeigt sich in diesem Blick. So sieht sie etwa einen kleinen Jungen mit einem Korb auf dem Rücken, dem ein gleichaltriges Mädchen mit seinem Einverständnis ein Tuch aus dem Korb zieht. Die Botschaft des Bildes besteht im Vertrauen, das die Kinder im Zusammenspiel miteinander verbindet. Ausdruck findet dies in der Geste. Gesten sind Menschen eigen, mit ihnen erzählen sie von sich. Fotografen müssen Situationen, in denen sich Gesten ereignen, voraussehen, dazu gehört fotografische Empathie.


 

Freundlichkeit als Prinzip

 

Die besaß Annette Wolff zweifellos. Nicht alleine ihre französischen Wurzeln mögen darauf hinweisen. In Frankreich fand sich mit Willy Ronis, Sabine Weiss oder Robert Doisneau eine Kollegenschaft, die das narrative Element der humanistischen Fotografie einzigartig beherrschte. Auch aus Annette Wolffs Fotografien spricht eine Freundlichkeit, zu der Humor unabdingbar gehört. Den beweist sie dort, wo sie den männlichen Blick thematisiert. So zeigt Wolff in einer Strandszene zwei junge Frauen, die in Badekleidung am Meer entlang schlendern, beobachtet von zwei Männern, die ihre Augen nicht von ihnen abwenden können. Erwischt, möchte man sagen. Objekt sind hier nicht die Frauen, sondern die beobachtenden Männer, auf die Annette Wolff die Brennweite ihrer Kamera ausrichtet und somit die Dramaturgie im Bild vorgibt. Ihr entging nicht die Verletzlichkeit der Männer, die gerade dort zum Ausdruck kam, wo sie sich heldenhaft in Pose zu werfen versuchten. Annette Wolff fotografiert im Schwimmbad eine Jungenriege, die sich frierend am Sprungturm präsentiert. Gleich werden sie mit großer Geste vom Brett springen, aber jetzt sind sie noch eine Reihe schmächtiger Körper, die erst noch Helden werden wollen.


 

Intimer noch ist Annette Wolffs Blick für die Frauen und deren Selbstinszenierung. Sie beobachtet sie beim nachmittäglichen Tee, und zeigt uns, wie sie mit gestischem Ambiente eine Aura um sich schaffen. Die Hände spielen dabei eine wichtige Rolle. Hände weist die Ikonographie der Malerei als Boten des Denkens aus. Annette Wolff zeigt sie mit nach oben geöffneten Handflächen, die mit dezenter Laszivität ein erotisches Signal aussenden. Zeige- und Mittelfinger halten eine Zigarette, deren Rauch gekräuselt aufsteigt. Die Zigarette wird hier nicht als auftrumpfendes, sondern als elegantes Symbol der Emanzipation ins Spiel gebracht. Es ist diese Leichtigkeit, mit der Annette Wolff einer schweren Zeit eine feine, sinnliche Lebensfreude abzugewinnen vermochte.

 

Thomas Linden,Köln,März 2025

 


Annette Wolff wurde 1906 in Straßburg geboren. Sie verbrachte ihre Schulzeit in Frankreich. 1919 begegnet sie in Straßburg erstmals Dr. Paul Wolff. Sie zieht 1920 nach München, besitzt bald ihre erste Kamera, eine 9x12 Kodak. 1926 zieht sie nach Frankfurt am Main, wo sie im Archiv der Agentur Wolff & Tritschler arbeitet. Sie heiratet 1939 Paul Wolff, 1943 Geburt des gemeinsamen Sohnes Stefan Wolff. Das Paar trennt sich 1949, sie kehrt zurück nach Straßburg. 1951 stirb Dr. Paul Wolff, Annette Wolff verwaltet seinen Nachlass. Sie arbeitet als selbständige Fotografin für Magazine, Agenturen, Museen, Architekturbüros und Modezeitschriften. Sie stirbt 2002 in Saumur an der Loire.