01-502-503-404-405-106-2

Arno und Alice Schmidt

Fotografien aus drei Jahrzehnten

 

9. Januar - 21. Februar 2010

 

 

Es ist das Preisgeld für sein Erstlingswerk Leviathan, das Arno Schmidt 1950 in eine Bonafix-Rollfilmkamera investiert. Dieser Kauf ist umso bemerkenswerter, als die Eheleute Schmidt nach den Kriegsjahren nahezu mittellos sind und zeugt von dem enormen Wert, den dieser Gegenstand für sie besitzt. Die neue Kamera ist fortan ein ständiger Begleiter, mit dem sie ihren Alltag dokumentieren: Sie porträtieren einander, halten Wohnungen und deren Interieurs, Wohnorte und Landschaften fest. Darüber hinaus ist die Kamera für Arno Schmidt zeitlebens ein unverzichtbares Utensil für sein literarisches Schaffen; sie ist sein Szikkenbuch, mit dessen Hilfe er "ganze Bündelchen von Erinnerungen [...] heraufangeln" kann, wie es in Abend mit Goldrand heißt.

 

 

Von der Skizze zum ästhetischen Objekt

 

Arno Schmidt ein Fotograf? Nur ausgewiesene Schmidt-Kenner wissen von der Leidenschaft des Schriftstellers für die Fotografie. Die Aufnahmen von Arno und Alice Schmidt sind zunächst Schnappschüsse, wie sie jeder fürs Fotoalbum macht und insofern allein als biografische Dokumente relevant. Hinzu kommen die optischen Notate, mit denen Arno Schmidt Schauplätze für seine schriftstellerische Arbeit festhält. Daneben entstehen auf Reisen Landschaftsaufnahmen von Arno Schmidt, die bereits eine eigene, über die Amateurfotografie hinausgehende Gestaltung zeigen und technisch versierter sind.

 

Seit 1958 leben Alice und Arno Schmidt zurückgezogen in dem kleinen niedersächsischen Dorf Bargfeld. Hier entstehen Aufnahmen, seien es Porträts oder Blicke auf das dörfliche Alltagsleben, die zunehmend eine bewusste Umsetzung bildkompositorischer Aspekte erkennen lassen. Das fokussierte Motiv ist mehr als bloße Erinnerung fürs Familienalbum oder Notiz für das literarische Schaffen; vielmehr rückt das Bild als ästhetisches Objekt ins Zentrum seines Interesses, gewinnt an Ausdruckskraft und Stimmigkeit. Flächen von Feldern, Wiesen, Wasser oder Himmel werden spannungsvoll komponiert, Hell und Dunkel bewusst inszeniert, Linien von Wald- oder Feldgrenzen, Bäumen oder Bauwerken als reizvolle grafische Elemente wahrgenommen und festgehalten. Gefördert wird diese Entwicklung durch die Freundschaft mit dem hessischen Studienrat Wilhelm Michels, mit dem Arno Schmidt sich intensiv mit der Fotografie auseinandersetzt, insbesondere was die technische Seite anbelangt. Dass auch Alice sicher mit der Kamera umzugehen weiß, beweisen die vielen Porträtaufnahmen, die sie von ihrem Mann macht.

 

 

Bilder wider das Vergessen

 

Die Fotografie sowie Gedanken über deren spezifische Möglichkeiten sind auffallend präsent in Arno Schmidts literarischem Werk. In Zettel’s Traum ist die Kamera der "Protest gegen die Vergänglichkeit", sie vermag die Dinge vor dem Vergessenwerden zu bewahren. Der Amateurfotograf Schmidt weiß, dass Bilder nicht in der Kamera entstehen, sondern im Kopf; Aufnahmen sind immer das Resultat innerlicher Bilder von Erlebtem, Erinnertem. Und mehr noch: Bild und Text fließen bei Arno Schmidt insofern ineinander, als einerseits das Betrachten von Fotografien unmittelbar Erinnerungen heraufbeschwört in Gestalt von Worten. Das Bild sagt nicht mehr als die berühmten tausend Worte, es lässt vielmehr Text entstehen, indem es Assoziationen oder Erinnerungen wachruft. Andererseits verdichtet sich das sprachliche Werk Schmidts wiederum zu überaus farbigen Bildern und stellenweise sprachlichen Fotogrammen mit Positiv-Negativ-Effekt, wie auch zu "Hörbildern", angesichts des stark fonografischen Elementes seiner Prosa.

 

 

Vier mal Vier aus dem Schuhkarton

 

Anders als der Schriftsteller Schmidt, der mit seinen wortschöpferischen und orthografischen Eigenwilligkeiten die Leserschaft in hingerissene Fans und verständnislose Gegner spaltet und mit seiner formalen Textgestaltung jeden Typografen herausfordert, ist der Fotograf Schmidt kein "Entant terrible". Im Gegenteil: Seine Bilder wirken fast unprätentiös und gewinnen vor allem in ihrer Zusammenschau an Vielschichtigkeit. Aus ihnen spricht die Liebe zur Natur und zum Detail, ohne klischeehaft zu sein. Unaufwändig lässt Schmidt die Fotos im Labor entwickeln und bewahrt sie im Schuhkarton auf, was zeigt, dass er sie nicht explizit als Ausstellungsobjekte betrachtet - und sich selbst, den Schriftsteller, nicht als Fotografen. Rund 2500 Farbfotos und gut tausend Schwarzweißfotos entstehen zwischen 1949 und 1979 – aufgenommen erst mit der Bonafix, dann mit einer Yashica 44. Alle Aufnahmen haben eines gemeinsam: ihr quadratisches Format. Es ist so etwas wie ein Markenzeichen.

 

Arno Schmidt wird am 18. Januar 1914 in Hamburg geboren und wächst in einem Arbeiterviertel heran. Mit vier Jahren kann der Sohn eines Polizeibeamten bereits lesen. Als der Vater 1928 stirbt, zieht er mit seiner Mutter und Schwester ins schlesische Lauban, die Geburtsstadt der Mutter. Nach dem Abitur arbeitet er als Lehrling und Lagerbuchhalter in den Greiffenberger Textilwerken, lernt dort Alice Murawski kennen und heiratet sie 1937. Beide widmen sich nun ausschließlich Arnos Schriftstellerei. 1939 wird er zur Artillerie eingezogen,  1942 nach Norwegen versetzt und gerät 1945 in englische Kriegsgefangenschaft, aus der er im November entlassen wird.

 

Nach dem Krieg ziehen Alice und Arno Schmidt nach Cordingen bei Fallingbostel in den "Mühlenhof". Die Schwester schickt der mittellosen Verwandtschaft aus den USA Care-Pakete. In der Nachkriegszeit arbeitet Schmidt als Dolmetscher, Ende der vierziger Jahre als freier Schriftsteller. 1949 debütiert er mit dem Erzählband Leviathan, für den er 1950 mit dem Großen Preis der Mainzer Akademie ausgezeichnet wird. Für den Broterwerb übersetzt er und schreibt für Zeitungen und Rundfunk. 1950 ziehen die Schmidts nach Gau-Bickelheim in Rheinhessen, 1951 nach Kastel an der Saar. 1953 erscheinen Aus dem Leben eines Fauns und Die Umsiedler. 1958 wechseln Alice uns Arno Schmidt ein letztes Mal den Wohnort; sie ziehen nach Bargfeld in Niedersachsen.

 

1964 erhält Schmidt den Berliner Fontane-Preis, 1965 die „Große Ehrengabe des Kulturkreises im Bundesverband der deutschen Industrie“. Schmidt zieht sich für Jahre zurück, um sein Hauptwerk zu vollenden: 1970 erscheint Zettel’s Traum. 1973 verleiht ihm die Stadt Frankfurt am Main den Goethe-Preis. 1979 stirbt Arno Schmidt nach einem Schlaganfall 65-jährig. Alice Schmidt und Jan Philipp Reemtsma gründen 1981 die Arno Schmidt Stiftung. 1983 stirbt Alice Schmidt.

 

Estella Kühmstedt

 

 

Das Forum für Fotografie zeigt eine Auswahl der Fotografien von Alice und Arno Schmidt aus dem Bildarchiv der Arno Schmidt Stiftung. Die Ausstellung wurde kuratiert von Janos Frecot und unterstützt von der Arno Schmidt Stiftung. Das Literaturhaus Köln organisiert im Rahmen der Ausstellung Lesungen zum Werk Arno Schmidts:

 

Samstag, 9. Januar 2010, 16 Uhr, Vernissage
Joachim Kersten und Bernd Rauschenbach lesen Windmühlen

 

Sonntag, 10. Januar 2010, 18 Uhr, im Rahmen des Neujahrsempfangs der Kunstmeile Süd
Der gelernte Buchgestalter Friedrich Forssman referiert über "Arno Schmidt setzen"

 

Montag 11. Januar 2010, 20 Uhr
Susanne Fischer und Bernd Rauschenbach über: Seelandschaft mit Pocahontas und die Folgen

 

[nach oben]